Was dein Herz nicht weiß
Sportanlage verließ und ihr der Schlachtruf der Männer in den Ohren klang, fragte sie sich, welche der Stimmen Min gehörte. Und dann wurde ihr klar, dass sie eigentlich überhaupt nichts über den Mann wusste, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte.
Meine liebe Soo-Ja,
die erste Woche als Revolutionskämpfer – na, wie klingt das? – habe ich überstanden. Während ich hier im Keller sitze und dir schreibe, mit einer Flasche Makgeolli neben mir, stehen die anderen Studenten auf dem Dach und tauschen Treueschwüre aus.
Meine Güte, war das eine lange Woche! Wir haben schon einige Protestaktionen hinter uns – jede einzelne ist ein Wunder an logistischer Planung und Präzision. Hast du schon einmal die gleichen Worte wie tausend andere Menschen gebrüllt? Das solltest du mal ausprobieren, davon wird das Gehirn kräftig durchgeblasen. Ich habe mich jedenfalls noch nie so sehr mit Menschen verbunden gefühlt, die ich eigentlich verachte. Wenn wir demonstrieren, bildet die Polizei einen Riegel und verstellt uns den Weg. Jedes Mal gibt es dann einen kniffligen Moment, wenn keine der Parteien weiß, wer an der Reihe ist, vorzustoßen. Der Trick dabei ist, sowohl schnelle Beine als auch kräftige Lungen zu haben. Ich habe inzwischen öfter etwas abbekommen, als ich zählen kann, aber ich schaffe es zum Glück immer, rechtzeitig zu entwischen.
Trotz allem aber will man auch bei der nächsten Demonstration wieder dabei sein. Das Ganze macht irgendwie süchtig. Und danach treffen wir uns immer an irgendwelchen geheimen Orten. Gestern haben wir uns im Haus eines Professors für Politikwissenschaften noch auf ein Glas Soju getroffen. Das ist es, was mich hier hält. Die anderen schwingen dann lange, kritische Reden über das Regime. Ich stimme ihnen halbherzig zu und warte auf mein Getränk. Irgendwie bin ich wohl ein Außenseiter. Die anderen vertrauen mir nicht so richtig.
Manchmal komme ich mir lächerlich vor, wenn ich die Schilder mit unseren Parolen hochhalte. Darauf stehen Dinge wie »Nieder mit dem Wahlbetrug!« und »Kann man blutig erkämpfte Freiheit mit Bajonetten zerstören?« Die anderen Studenten haben die meisten meiner Ideen für Schlachtrufe abgelehnt, genau wie meinen Vorschlag, einfach darauf zu warten, dass der Präsident an Altersschwäche stirbt. Er ist immerhin schon fünfundachtzig, und ich glaube nicht, dass er noch lange lebt. Wenn wir jetzt seit Jahrtausenden auf die Demokratie warten – wir sind ja eine alte Nation – , dann können wir doch auch noch ein oder zwei Jahre länger Geduld haben.
Manchmal würde ich meinen Freunden gerne von dir erzählen, aber ich fürchte, sie würden mir nicht glauben. Ich denke an dein langes, schönes, seidiges Haar. An deine zarte Haut. An deine hohen Wangenknochen. An deine großen, wunderschönen Augen. An deine edle, gerade Nase. An dein bezauberndes Lächeln, das warm und schalkhaft zugleich wirkt. An dein Gesicht, das geformt ist wie eine dieser mysteriösen Steinfiguren auf der Insel Jeju. Wir wissen nicht, wie sie entstanden sind oder wer sie geschaffen hat, aber wir können darüber staunen, und ich staune über dich.
Vielleicht würdest du mir ein Bild von dir schicken, dann könnte ich allen hier beweisen, dass es dich gibt – und mir selbst, dass ich dich nicht einfach bloß erfunden habe. Mögen deine Tage schön sein – und das müssen sie, wenn sie dir nur halb so viel Hoffnung und Freude bescheren, wie du mir schenkst.
Min Lee
Soo-Ja seufzte und schloss die Augen. Sie war glücklich, aber auch neidisch. Sie wollte diejenige sein, die weit weg war und Briefe über ihre Abenteuer an ihre jungfräuliche Braut schickte. Sie wollte diejenige sein, die Min erzählte, unter welchen Mühen sie sich durchschlug, damit er ihren Mut bewunderte. Wenn es schon so herrlich war, einen solchen Brief zu bekommen, wie fabelhaft musste es dann erst sein, ihn zu schreiben?
Aber vielleicht sollte ich einfach nur dankbar sein für das, was ich habe , sagte sich Soo-Ja. Es war so schön, in Daegu zu wohnen. Natürlich, andauernd regnete oder schneite es, aber während der herrlichen Frühlings- und Herbstmonate konnte sie sich in den Hügeln hinter dem Haus vergnügen. Dann lief sie zwischen den Ginkgos, Kiefern, Ahornbäumen, Bambusbüschen und Dattelpflaumen hindurch und bestaunte Flieder, Feuerlilien, Prunkwinden, Kirschblüten und Pfingstrosen. Sie atmete den Duft der Glyzinien und lief über Kastanienblätter. Sie strich mit den
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