Was deine Augen sagen: Roman (German Edition)
Flughafen von Córdoba gelandet. Francesca nach all den Monaten leibhaftig vor sich zu sehen und nicht nur als verschwommenes Trugbild, das ihm in seinen schlaflosen Nächten erschien, erfüllte seinen ganzen Körper mit brennender Sehnsucht. Er war kurz davor, ihr hinterherzulaufen, beherrschte sich jedoch. Zuerst musste er noch einige Dinge erledigen.
Auf dem Weg zum Redaktionsgebäude dachte Kamal zum wiederholten Mal über den Schritt nach, den er gerade tat. Er hatte alles versucht, um sich Francesca aus dem Kopf zu schlagen, Allah war sein Zeuge, aber es war ihm nicht gelungen. Er hatte nach überzeugenden Argumenten gesucht – ihre Sicherheit, die Situation des Landes, der Skandal, den eine Heirat mit einer Christin verursachen würde, die ablehnende Haltung der Familie – und war doch immer wieder zu einer Erkenntnis gelangt: Sein Leben hatte keinen Sinn ohne sie.
Als er nach den Tagen auf seinem Anwesen in Dschidda zurück nach Riad kam, hatte er versucht, sich in die Arbeit zu flüchten. Er verbrachte viele Stunden damit, gemeinsam mit seinen Onkeln und seinem Bruder Faisal Pläne zu schmieden, um Saud und seine Gefolgsmänner zu stürzen. Er nahm alle Einladungen an, die er erhielt, und versuchte, so wenig Zeit wie möglich in seiner Wohnung zu verbringen. Die Stille im Haus und die Erinnerung an den Abend, als Francesca ihm mitgeteilt hatte, dass sie schwanger war, raubten ihm den Schlaf und brachten ihn zum Grübeln. Er versuchte zu schlafen, aber sobald er die Augen schloss, sah er sie vor sich. Francescas Bild verfolgte ihn. Dann knipste er das Licht wieder an und nahm ihren Brief aus der Nachttischschublade, den er schon auswendig kannte. »Warum hast du mich verlassen, Kamal?«
Er hatte es verdient, zu leiden. Es war ein Zeichen von Schwäche gewesen, als er zuließ, dass an jenem Abend in der venezolanischen Botschaft sein Verstand aussetzte. Er hatte von Anfang an gewusst, dass sie ein verbotenes Objekt war; dennoch hatte er sich von der Leidenschaft mitreißen lassen, die sich jedes Mal seiner bemächtigte, wenn er sie ansah. Durch seinen Egoismus hatte er sie unnötig in Gefahr gebracht. Wenn er sich vorstellte, wie sie sich in der Gewalt von Terroristen befunden hatte, wie sie geschlagen und gequält wurde, drehte sich alles in seinem Kopf, und er war kurz davor, verrückt zu werden. Er hatte es verdient, zu leiden, und ein ganzes Leben würde nicht ausreichen, um für seine Schuld zu sühnen.
Wenigstens blieben ihm die schönen Erinnerungen an die Liebe, denn er würde nie wieder so lieben, wie er Francesca de Gecco geliebt hatte, mit einer Inbrunst und Hingabe, wie man sie nur einmal im Leben erlebte. Er hatte sie aus seinem Leben verdrängt, jetzt musste er mit den Konsequenzen leben. Aber eines Tages dachte er: Mit den Konsequenzen leben? Warum? Wozu? Für Saudi-Arabien? Aus Respekt und Gehorsamkeit gegenüber seiner Familie? Überzeugungen, die bislang der Kern seiner Erziehung gewesen waren, wurden hinfällig angesichts der Liebe, die er für Francesca empfand. Eine neue Erkenntnis trat an deren Stelle und rang ihm ein Lächeln ab: Nichts konnte ein Leben ohne Francesca rechtfertigen. Ihm wurde klar, dass er imstande war, sich für sie mit der ganzen Welt zu überwerfen. Er hatte keine Gewissensbisse mehr, nur noch den unbezähmbaren Wunsch, sie wiederzusehen. Er wusste, dass er erneut am Scheideweg stand, wie in jener Nacht in Genf, die ihrer beider Schicksal geprägt hatte. Es war Leichtsinn, aber ihm war alles egal, sogar ihre Sicherheit. Deshalb war er jetzt hier, in Córdoba, einer Stadt irgendwo in Südamerika, von der er nie gedacht hätte, dass er sie einmal kennenlernen würde. Er hatte den Atlantik überquert, um Francesca erneut aus ihrer Welt herauszuholen und mit sich zu nehmen.
Ein Schild in der Empfangshalle verriet ihm, dass sich Alfredo Viscontis Büro im zweiten Stock befand. Er ging die Treppe hinauf und betrat ein Vorzimmer, wo ihm eine Frau um die dreißig entgegenkam. Nora wusste sofort, wen sie vor sich hatte. Der Besucher trug einen edel geschnittenen Maßanzug, und der Kontrast zwischen seinen grünen Augen und der kupferfarbenen Haut verschlug ihr für einen Moment die Sprache.
»Guten Tag«, grüßte Kamal in tadellosem Englisch.
»Guten Tag«, erwiderte Nora. »Kann ich Ihnen weiterhelfen?«
»Ich suche Señor Visconti. Ist er zu sprechen?«
»Bitte nehmen Sie Platz. Ich schaue nach, ob er Sie empfangen kann. Wen darf ich melden?«
»Bitte sagen
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