Was der Hund sah
Grund dafür war für sie genauso ein Rätsel wie für die Zuschauer. Ist es nicht so, dass wir unter Druck über uns hinauswachsen? Wir geben alles. Wir konzentrieren uns. Wir bekommen einen Adrenalinschub. Wir achten auf jede einzelne Bewegung. Was ging mit ihr vor?
Beim Matchball spielte Novotna einen vorsichtigen, flachen Heber. Graf antwortete mit einem unerreichbaren Schmetterball, und dann hatte das Leiden ein Ende. Wie betäubt ging Novotna ans Netz. Graf gab ihr zwei Küsschen. Bei der Siegerehrung überreichte ihr die Duchesse von Kent den Trostpreis, ein Silbertellerchen, und flüsterte ihr etwas ins Ohr. In diesem Moment schien Novotna zu begreifen, was passiert war. Schwitzend und erschöpft stand sie über der zierlichen, weißhaarigen Duchesse mit ihrer Perlenkette. Die Duchesse legte ihr den Arm um den Hals und zog ihren Kopf auf ihre Schulter. Novotna begann zu schluchzen.
2.
Viele Menschen versagen, wenn sie unter Druck stehen. Piloten stürzen ab, Taucher ertrinken. Im Wettkampffieber treffen Basketballer den Korb nicht mehr, und Golfspieler bekommen den Ball nicht ins Loch. In Fällen wie diesen sagen wir oft, sie wären in Panik geraten oder sie hätten eine Blockade gehabt. Aber was meinen wir damit? Schmeichelhaft ist es jedenfalls nicht gemeint. In Panik zu verfallen oder eine Blockade zu haben ist genauso schlimm wie aufzugeben. Aber ist Versagen immer gleich Versagen? Was verrät unser Scheitern über uns und das, was ins uns vorgeht? Wir leben in einer Zeit, in der nur der Erfolg zählt, und wir erfahren in immer neuen Geschichten, wie talentierte Menschen Hindernisse und Herausforderungen überwinden. Genauso viel können wir jedoch lernen, wenn wir uns ansehen, wie talentierte Menschen versagen.
Eine »Blockade zu haben« klingt reichlich vage, doch die Redewendung beschreibt eine ganz spezifische Form des Versagens. Diese lässt sich an einem einfachen Videospiel darstellen, das Psychologen verwenden, um motorische Fähigkeiten zu überprüfen. Sie sitzen vor einem Computerbildschirm mit vier nebeneinander angeordneten Kästchen und einem Apparat mit vier nebeneinander angeordneten Knöpfen. Jedes Mal, wenn in einem der Kästchen ein X erscheint, sollen Sie den entsprechenden Knopf auf Ihrer Tastatur drücken. Wenn Sie vorher informiert werden, in welcher Reihenfolge die X in den Kästchen erscheinen, verbessert sich Ihre Reaktionszeit deutlich, erklärt Daniel Willingham, Psychologe der University of Virginia. Sie spielen das Spiel ein paar Runden lang vorsichtig, bis Sie sich die Reihenfolge eingeprägt haben, dann werden Sie immer schneller. Willingham nennt dies »explizites Lernen«.
Nehmen wir nun aber an, Sie wissen nicht, in welcher Reihenfolge die X erscheinen, und Sie durchschauen das Muster auch nach einigen Runden noch nicht. Trotzdem werden Sie schneller, denn Sie prägen sich die Reihenfolge unbewusst ein. In diesem Fall spricht Willingham von »implizitem Lernen« und meint damit einen unbewussten Lernprozess. In beiden Fällen verwenden wir jeweils unterschiedliche Lernsysteme, die sich in unterschiedlichen Teilen des Gehirns befinden. Willingham erläutert, wenn wir zuerst eine explizite Anleitung erhalten - beispielsweise für einen Schmetterball -, dann durchdenken wir den Ablauf sehr bewusst und mechanisch. Doch wenn wir besser werden, übernimmt das implizite Lernen das Ruder: Unser Bewegungsablauf wird flüssiger, wir denken nicht mehr darüber nach. Die Basalganglien, in denen der implizite Lernprozess unter anderem stattfindet, sind für Kraft und Timing zuständig, und wenn dieses System aktiv wird, entwickeln wir Gefühl und Präzision, wir lernen, einen Rückhandschlag zu spielen oder einen Aufschlag mit 160 Stundenkilometern zu schlagen. »Das passiert ganz allmählich«, erklärt Willingham. »Wenn Sie ein paar Tausend Mal Schmetterbälle geschlagen haben, dann achten Sie zwar immer noch auf die Bewegung, aber weniger. Am Ende bemerken Sie gar nicht mehr, was Ihre Hand tut.«
In Stresssituationen kann es jedoch passieren, dass das explizite System wieder das Kommando übernimmt. Genau das meint der Begriff Blockade. Jana Novotna scheiterte in Wimbledon, weil sie wieder über ihren Schlag nachdachte. Sie verlor ihr Gefühl und ihren flüssigen Bewegungsablauf. Beim Aufschlag machte sie Doppelfehler, Schmetterbälle landeten im Netz - beides Schläge, die in besonderem Maße Timing und Kraft erfordern. Sie wirkte wie ausgetauscht und spielte mit den
Weitere Kostenlose Bücher