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Was der Hund sah

Was der Hund sah

Titel: Was der Hund sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
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gepresst. »Während des Sturzflugs spüren Sie die Zentrifugalkraft nicht«, erklärte Langewiesche. »Das macht es für unerfahrene Flieger so verwirrend.«
    Ich fragte Langewiesche, wie lange wir noch weiter hätten fallen können. »Fünf Sekunden später hätten wir die Belastungsgrenze der Maschine erreicht«, antwortete er, das heißt, die Kraft, die erforderlich gewesen wäre, um den Sturzflug zu beenden, hätte die Maschine zerrissen. Ich sah nicht mehr auf die Instrumente und bat Langewiesche, noch einmal in Sturzflug zu gehen und es mir nicht zu sagen. Ich wartete. Als ich ihm schon sagen wollte, dass er jederzeit anfangen könne, wurde ich plötzlich in den Sitz gepresst. »Wir haben gerade 300 Meter verloren«, verkündete er.
    Die Tatsache, dass wir nicht fühlen, wie sich das Flugzeug verhält, macht Nachtflüge so stressreich. Genau diesen Stress muss Kennedy empfunden haben, als er bei Westerly hinaus aufs offene Meer flog und die Lichter der Küste hinter sich ließ. Ein anderer Pilot, der an diesem Abend nach Nantucket flog, berichtete dem National Transportation Safety Board, er habe beim Anflug auf Martha’s Vineyard nach unten geblickt und nichts gesehen. »Es gab keinen Horizont und kein Licht. Ich habe gedacht, auf der Insel wäre der Strom ausgefallen.« Kennedy flog blind, und er muss gespürt haben, in welcher Gefahr er sich befand. Er hatte kaum Erfahrung darin, nach Instrumenten zu fliegen. Bei seinen früheren Flügen nach Martha’s Vineyard war der Horizont meist zu sehen gewesen. Die merkwürdigen letzten Manöver lassen darauf schließen, dass Kennedy panisch nach einer Lücke im Nebel gesucht haben muss. Er suchte nach den Lichtern von Martha’s Vineyard, um den verlorenen Horizont wiederzufinden. Im Bericht des National Transportation Safety Board kann man seine Verzweiflung fast mit Händen greifen:
    Gegen 21:38 Uhr leitete das Ziel eine Rechtskurve in südlicher Richtung ein. Nach 30 Sekunden unterbrach es seinen Sinkflug bei 2 200 Fuß und ging in einen Steigflug über, der ebenfalls 30 Sekunden lang dauerte. In diesem Zeitraum beendete das Ziel seine Wende und reduzierte die Geschwindigkeit auf 153 Knoten. Um 21:39 Uhr erreichte das Ziel 2 500 Fuß und flog in südöstlicher Richtung. Etwa 50 Sekunden später leitete das Ziel eine Linkskurve ein und stieg auf2 600 Fuß. Unter einer fortgesetzten Linkskurve ging es in einen Sinkflug über, bei dem es eine Geschwindigkeit von 900 Fuß pro Minute erreichte.
    Aber hatte Kennedy eine Blockade oder verfiel er in Panik? In diesem Fall ist der Unterschied entscheidend. Bei einer Blockade wäre er in den Modus des expliziten Lernens zurückgefallen. Er hätte sich langsamer und weniger flüssig bewegt und wäre zu der mechanischen Anwendung der Lektionen aus den ersten Flugstunden zurückgekehrt. Das hätte ihn vermutlich gerettet. Kennedy musste nachdenken, sich konzentrieren und den Instinktflug beenden, der ihm nur half, solange er einen Horizont vor sich hatte.
    Doch allem Anschein nach reagierte er panisch. In dem Moment, in dem er sich an das erinnern musste, was er über den Instrumentenflug gelernt hatte, muss sein Kopf so leer gewesen sein wie Morpheys Kopf beim Tauchgang. Statt auf die Instrumente zu sehen, konzentrierte er sich offenbar auf eine einzige Frage: Wo sind die Lichter von Martha’s Vineyard? Es kann gut sein, dass er das Gyroskop und die Instrumente genauso wenig wahrnahm wie die Versuchspersonen in der Unterwasserröhre die Leuchten im Augenwinkel. Er verließ sich auf seinen Instinkt und darauf, wie sich die Maschine anfühlte, doch in der Dunkelheit verrät uns dieser Instinkt gar nichts. Aus dem Bericht des National Transportation Safety Boards geht hervor, dass die Tragflächen der Piper zum letzten Mal um 21:40:07 Uhr waagrecht standen, und dass die Maschine gegen 21:41 Uhr auf dem Wasser aufschlug. Die entscheidende Zeitraum war weniger als eine Minute lang. Um 21:40:25 Uhr waren die Flügel bereits um mehr als 45 Grad geneigt. Im Cockpit fühlte sich alles normal an. Irgendwann muss Kennedy bemerkt haben, dass der Wind stärker und die Motoren lauter wurden, als die Maschine beschleunigte. Instinktiv könnte er versucht haben, das Flugzeug hochzuziehen, doch dieses Manöver macht die Spirale nur noch enger, wenn nicht zuvor die Tragflächen ausgerichtet werden. Vielleicht unternahm Kennedy auch gar nichts, sondern saß nur erstarrt am Hebel und versuchte verzweifelt, die Lichter von Martha’s Vineyard

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