Was der Hund sah
vorhergesehen, doch sein Auftreten bewegt sich im Rahmen der technischen Einschätzung komplexer technologischer Systeme«, schreibt sie. »Bei der NASA waren Probleme die Norm. Das Wort Anomalie gehörte zum Alltag ... Das Spaceshuttle-Programm basierte auf der Annahme, dass sich Abweichungen zwar kontrollieren, aber nicht ausschalten ließen.«
Die NASA hatte also eine in sich geschlossene Kultur geschaffen, in der Abweichungen die Regel waren, weshalb Entscheidungen, die Außenstehenden zumindest fragwürdig vorkamen, vom Management der NASA als vertretbar und sinnvoll eingeschätzt wurden. Diese Darstellungen der NASA-Innensicht sind es, die Vaughans Buch so beunruhigend machen. Wenn sie die Abfolge der Entscheidungen schildert, die zum Start führten - von denen jede Einzelne so trivial war wie die Ereignisse, die dem Reaktorunfall von Harrisburg vorausgingen -, dann lässt sich kaum ein genauer Moment festmachen, an dem etwas schief ging oder an dem beim nächsten Mal etwas besser gemacht werden könnte. »Die Entscheidung zum Start der Challenger hielt sich an die bestehenden Regeln«, schließt sie. »Doch das Selbstverständnis, die Regeln, Abläufe und Normen, die in der Vergangenheit funktioniert hatten, funktionierten diesmal nicht. Schuld hatten nicht unmoralische und berechnende Manager. Schuld war der Konformismus.«
4.
Das Problem lässt sich auch aus einer anderen Sicht betrachten, und zwar aus der Art und Weise, wie Menschen mit Risiken umgehen. Eine der Annahmen hinter dem modernen Katastrophenritual ist, dass sich Risiken erkennen und beseitigen und dass sich Systeme dadurch sicherer machen lassen. Die neuen Dichtungsringe des Spaceshuttle sind beispielsweise deutlich besser als die alten, dass die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls wie des der Challenger erheblich geringer ist. Oder doch nicht? Das klingt so logisch, dass es fast absurd erscheint, es anzuzweifeln. Doch genau das tut eine Gruppe von Wissenschaftlern, die eine Theorie mit dem Namen »Risikoausgleich« formuliert hat. Man sollte hinzufügen, dass die Forschung sich uneins ist, worauf sich diese Theorie genau anwenden lässt. Doch der Grundgedanke, den der kanadische Psychologe Gerald Wilde in seinem Buch Target Risk formuliert, ist einfach: Veränderungen, die ein System sicherer machen sollen, bewirken unter bestimmten Umständen das genaue Gegenteil. Warum? Weil wir die anscheinend typisch menschliche Angewohnheit haben, ein geringeres Risiko auf einem Gebiet ausgleichen, indem wir anderswo größere Risiken eingehen.
Nehmen wir beispielsweise ein berühmtes Experiment, das vor einigen Jahren in München durchgeführt wurde. Ein Teil der Taxiflotte wurde mit dem Antiblockiersystem ABS ausgestattet, mit dem das Bremsverhalten vor allem auf rutschigen Straßenbelägen erheblich verbessert wird. Der Rest der Flotte wurde nicht umgerüstet. Beide Gruppen wurden über die nächsten drei Jahren hinweg heimlich beobachtet. Man sollte meinen, dass die besseren Bremsen für größere Sicherheit sorgten, doch das Gegenteil war der Fall. Die Unfallrate der Fahrer blieb auch mit ABS gleich, und das Fahrverhalten der Taxifahrer verschlechterte sich sogar deutlich. Sie fuhren schneller, nahmen die Kurven schnittiger, wechselten häufiger die Spur, bremsten schärfer, fuhren dichter auf, fädelten sich schlechter ein und hatten mehr Beinaheunfälle. Mit anderen Worten benutzten die Fahrer die zusätzliche Sicherheit durch das ABS nicht, um die Zahl der Unfälle zu reduzieren, sondern dazu, um schneller und rücksichtsloser zu fahren. Wirtschaftswissenschaftler würden sagen, sie sparten die Risikominderung nicht, sondern sie verkonsumierten sie.
Der Risikoausgleich betrifft nicht alles. Im Falle der Anschnallpflicht wurde die zusätzliche Sicherheit beispielsweise nur zum Teil wieder durch riskanteres Verhalten kompensiert. Doch er kommt häufig genug vor, um ihn ernsthaft mit in Erwägung zu ziehen. Wie kommt es zum Beispiel, dass an Kreuzungen mit Zebrastreifen mehr Menschen überfahren werden als an Kreuzungen ohne Fußgängerüberweg? Weil wir die zusätzliche Sicherheit ausgleichen, indem wir weniger auf den Verkehr achten. Warum starben nach der Einführung von kindersicheren Schraubverschlüssen bei Medikamenten mehr Kinder an Arzneimittelvergiftungen? Weil die Erwachsenen ihre Fläschchen überall herumliegen ließen.
Der Risikoausgleich wirkt aber auch andersherum. Als beispielsweise Schweden Ende der sechziger Jahre von Links- auf
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