Was der Hund sah
Schluss und erklärt, der Unfall sei geschehen, weil sich die NASA-Mitarbeiter an ihre Regeln gehalten hätten. »Die NASA traf keine einzige Entscheidung, um damit Schaden anzurichten«, schreibt sie. »Vielmehr wurde eine Reihe scheinbar harmloser Entscheidungen getroffen, mit denen sich die NASA in winzigen Schritten der Katastrophe näherte.«
Vaughans Analyse wird zweifelsohne eine Kontroverse auslösen, doch wenn sie auch nur annähernd Recht hat, dann hat dieser Gedanke Implikationen von enormer Tragweite. Im Technologiezeitalter haben wir uns mit Atomkraftwerken und Nuklearwaffen umgeben, wir haben Flughäfen gebaut, auf denen pro Stunde Hunderte Flugzeuge starten und landen, in der Annahme, dass wir die damit verbundenen Risiken kontrollieren können. Doch wenn die Möglichkeit eines Unfalls schon im Normalbetrieb eines komplexen Systems angelegt ist, dann ist diese Annahme falsch. Risiken sind nicht kontrollierbar, Unfälle nicht einfach vermeidbar, und unsere Unglücksrituale sinnlos. Im Januar 1986 war die Geschichte des Challenger-Absturzes eine Tragödie. Wenn wir sie heute noch einmal hören, ist sie nur noch banal.
2.
Die Diskussion um die Explosion der Challenger lässt sich besser verstehen, wenn wir uns zunächst einen Unfall ansehen, der sich sieben Jahre zuvor ereignete - die Beinahekatastrophe des Reaktors von Three Mile Island bei Harrisburg im März 1979. Der Untersuchungsausschuss, der dieses Unglück analysierte, kam zu dem Schluss, dass die Ursache des Reaktorunfalls menschliches Versagen war. Skeptiker meinen jedoch, dass die Wahrheit sehr viel komplizierter ist.
Das Problem in Three Mile Island begann mit einem verstopften Wasserfilter. Das war weder ein unübliches noch ein besonders gravierendes Problem. In diesem Fall sickerte jedoch Feuchtigkeit in das Lüftungssystem und verschloss zwei Ventile und damit die Kaltwasserzufuhr für den Dampfgenerator.
Für Fälle wie diese hatte Three Mile Island ein Notkühlaggregat.
Doch ausgerechnet an diesem Tag waren aus völlig unerfindlichen Gründen die Ventile dieses Aggregats nicht geöffnet. Jemand hatte sie geschlossen, und die Leuchte im Kontrollzentrum, die dies anzeigte, wurde durch eine Reparaturnotiz verdeckt, die von einem darüber befindlichen Hebel herabhing. Damit war der Reaktor auf ein weiteres Schutzsystem angewiesen, das wie ein Sicherheitsventil funktionieren sollte. Doch wie das Schicksal es so wollte, funktionierte auch dieses Ventil an diesem Tag nicht. Es blieb offen, obwohl es sich eigentlich hätte schließen sollen, und um das Fass endgültig zum Überlaufen zu bringen, war auch die Anzeige im Kontrollzentrum ausgefallen, die den Technikern mitgeteilt hätte, dass das Ventil nicht geschlossen war. Als die Techniker erkannten, was passierte, stand der Reaktor bereits kurz vor der Schmelze.
Die Katastrophe wurde also durch fünf unabhängige Ereignisse ausgelöst. Über keines davon konnten die Ingenieure im Kontrollzentrum informiert werden. Es wurden keine folgenschweren Fehler gemacht und keine falschen Entscheidungen getroffen, die das Problem verschlimmert hätten. Jeder dieser Defekte - der verstopfte Wasserfilter, die geschlossenen Ventile, die verdeckte Anzeige, das defekte Sicherheitsventil und die ausgefallene Kontrollleuchte - waren trivial und an sich kaum mehr als ein kleines Ärgernis. Das Unglück kam zustande, weil sich diese kleinen Ereignisse in unvorhergesehener Weise verketteten und ein großes Problem verursachten.
In Zusammenhang mit diesen und ähnlichen Unfällen spricht Charles Perrow, Soziologe der Yale University, von »normalen Unfällen«. Mit »normal« meint er nicht, dass diese Unfälle dauernd auftreten, sondern nur, dass sie im Normalbetrieb einer technologisch komplexen Anlage zu erwarten sind. Moderne Systeme bestehen aus Tausenden Teilen, und diese greifen auf eine Weise ineinander, die sich unmöglich exakt vorhersehen lässt, so Perrow. Angesichts dieser Komplexität ist es beinahe unvermeidbar, dass einige Kombinationen kleinerer Ausfälle schließlich in eine Katastrophe münden. In einem klassischen Aufsatz über Unfälle, den er im Jahr 1984 veröffentlichte, demonstriert Perrow anhand von Flugzeugabstürzen, Ölkatastrophen, Explosionen in Chemiefabriken und Unfällen mit Nuklearwaffen, warum es sich in den allermeisten Fällen um »normal Unfälle« handelte. Der Film Apollo 13 ist eine geniale Darstellung eines der berühmtesten normalen Unfälle: Die Apollo-Mission
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