Was der Hund sah
verfasst, als ihre Autoren 23, 41, 48, 40, 29, 30, 30, 38, 42 beziehungsweise 59 Jahre alt waren.
Galensons Untersuchung liefert also keinen Hinweis darauf, dass lyrische Dichtung die Domäne der Jugend ist. Einige Dichter schreiben ihre besten Werke zu Beginn ihrer Karriere, andere hingegen Jahrzehnte später. Robert Frost schrieb 42 Prozent seiner anthologisierten Gedichte nach dem fünfzigsten Lebensjahr, Williams 44 Prozent, und Stevens 49 Prozent.
Dies trifft auch auf das Kino zu, wie Galenson in einer anderen Untersuchung zeigte. Natürlich hatte Orson Welles seinen ersten Erfolg im Alter von 25 Jahren. Doch Alfred Hitchcock, Regisseur unter anderem von Über den Dächern von Nizza, Der unsichtbare Dritte und Psycho, hatte seine Erfolgsserie - eine der längsten, die ein Regisseur in der Geschichte des Kinos hatte - zwischen dem 54. und dem 61. Lebensjahr. Mark Twain veröffentlichte seinen Huckleberry Finn mit 49 Jahren. Und Daniel Defoe war 58, als er Robinson Crusoe schrieb.
Zwei Fälle, die Galenson besonders beschäftigten, waren Picasso und Cezanne. Als Kunstliebhaber kannte er ihre Biografien sehr gut. Picasso war das strahlende Wunderkind. Am Anfang seiner Künstlerlaufbahn stand Evokation - Das Begräbnis Casagemas, das er im Alter von zwanzig Jahren malte. Dem folgte ein Meisterwerk nach dem anderen, darunter Les Demoiselles d’Avignon im Alter von 26 Jahren. Picasso verkörpert unsere Vorstellung eines Genies bis auf das i-Tüpfelchen.
Anders Cezanne. Sämtliche Meisterwerke an der hinteren Wand des Cezanne-Raums im Musee d’Orsay von Paris, der besten Cezanne- Sammlung der Welt, stammen aus seinen letzten Lebensjahren. Galenson machte eine einfache wirtschaftliche Rechnung auf: Er erstellte eine Tabelle mit den Preisen, die in Auktionen für Gemälde von Picasso und Cezanne erzielt wurden, und daneben notierte er das Alter, in dem sie die betreffenden Werke gemalt hatten. Ein Gemälde, das Picasso als Mittzwanziger malte, ist heute im Schnitt viermal so viel wert wie eines, das er mit sechzig malte. In Cezannes Fall verhält es sich genau umgekehrt. Gemälde, die er als Mittsechziger malte, sind heute durchschnittlich fünfzehnmal so teuer wie Bilder, die er als junger Mann schuf. Frische, Überschwang und Energie der Jugend brachten Cezanne offenbar wenig. Er war ein Spätzünder. Und aus unerfindlichen Gründen haben wir bei unserem Versuch, Genie und Kreativität zu erklären, die Cezannes dieser Welt übersehen.
3.
Ben Fountains erster Tag am Küchentisch verlief gut. Er wusste, wie er seine Geschichte über den Aktienhändler anfangen wollte. Aber am zweiten Tag sei er »völlig ausgerastet«, erinnert er sich. Er hatte keine Ahnung, wie er Dinge beschreiben sollte, und fühlte sich, als säße er wieder in der ersten Klasse. Er hatte keine fertige Geschichte, die nur darauf wartete, zu Papier gebracht zu werden. »Ich musste mir erst mal ein mentales Bild machen von einem Gebäude, einem Raum, einer Fassade, einem Haarschnitt, Kleidern - ganz normalen Dingen eben. Ich habe plötzlich gemerkt, dass ich nicht wusste, wie man das alles in Worte fasst. Ich habe mir Bilderwörterbücher und ein paar Architekturhandbücher gekauft und bin damit wieder zur Schule gegangen.«
Er sammelte Artikel über Dinge, die ihn interessierten, und schon bald entdeckte er eine besondere Faszination für Haiti. »Meine Haiti-Mappe ist immer dicker geworden«, sagt Fountain. »Und ich habe mir gedacht, okay, das ist mein Roman. Ein paar Monate lang habe ich mir gedacht, ich muss da gar nicht hin, ich kann mir alles im Kopf ausmalen. Aber dann habe ich mir gedacht, klar musst du hin. Also bin ich nach Haiti, im April oder Mai ’91.«
Er sprach kaum Französisch und schon gar kein haitianisches Kreol. Er war noch nie im Ausland gewesen, und in Haiti kannte er niemanden. »Ich bin die Treppen zum Hotel raufgegangen, und oben stand dieser Typ«, erinnert sich Fountain. »Er hat gesagt: ›Ich heiße Pierre. Du brauchst einen Führer.‹ Und ich hab geantwortet: ›Da hast du verdammt Recht.‹ Er war ein ehrlicher Kerl, und er hat ziemlich schnell kapiert, dass ich nicht an Mädchen und Drogen und diesem Zeug interessiert war. Und dann ging’s los, ich bring dich hierhin, ich stelle dir den und den vor.«
Fountain war gefesselt von Haiti. »Es ist fast wie ein Labor. Alles, was in den letzten fünfhundert Jahren passiert ist - Kolonialismus, Rassenprobleme, Macht, Politik, Umweltkatastrophen - das ist alles
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