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Was der Hund sah

Was der Hund sah

Titel: Was der Hund sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
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seinen Huckleberry Finn so oft, dass er fast ein ganzes Jahrzehnt benötigte, um das Buch fertigzustellen. Die Cezannes dieser Welt sind nicht deshalb Spätzünder, weil ihnen der Charakter fehlt, weil sie abgelenkt werden oder weil es ihnen an Ehrgeiz mangelt, sondern weil ihre Kreativität über die Versuch-und-Irrtum-Methode funktioniert und viel Zeit erfordert, um Früchte zu tragen.
    Eine der besten Geschichten aus Brief Encounters trägt den Titel »Near-Extinct Birds of the Central Cordillera«. Sie beschreibt einen Ornithologen, der von den Guerrilleros der kolumbianschen FARC als Geisel genommen wird. Wie viele von Fountains Geschichten ist sie von einer leichtfüßigen Eleganz. »Mit dieser Geschichte habe ich gerungen«, erinnert sich der Autor. »Ich will immer zu viel. Mit den verschiedenen Fassungen habe ich bestimmt fünfhundert Seiten geschrieben.« Zur Zeit arbeitet er an einem Roman. Er war für dieses Jahr angekündigt. Fountain schreibt noch.
4.
    Galensons Unterscheidung zwischen konzeptioneller und experimenteller Kreativität hat eine ganze Reihe von Konsequenzen. Zum Beispiel meinen wir oft, Spätzünder fingen einfach später an. Da sie ihr Talent erst mit fünfzig erkennen, ist es klar, dass sie erst spät Erfolg haben. Das stimmt jedoch so nicht. Als Cezanne mit dem Malen begann, war er kaum älter als Picasso. Oder wir meinen, Spätzünder werden einfach spät entdeckt, weil die Welt eine Weile braucht, um ihr Talent zu erkennen. In beiden Fällen nehmen wir an, dass der Spätzünder letztlich nichts anderes ist als ein Wunderkind mit einem Vermarktungsproblem.
    »Cezannes visionäre Qualitäten wurden immer wieder behindert und gehemmt durch seine Unfähigkeit, den Gegenständen seiner Gemälde ausreichenden Realismus zu verleihen«, schrieb der legendäre englische Kunstkritiker Roger Fry über den jungen Cezanne. »Trotz seiner seltenen Gaben fehlte ihm das verbreitete Talent der Illustration, wie sie jeder Zeitungsillustrator in einer kommerziellen Kunstschule erlernen kann; doch um seine Visionen umsetzen zu können, benötigte Cezanne diese Fähigkeit in hohem Maße.« Mit anderen Worten, Cezanne konnte nicht zeichnen. Über Das Bankett, das Cezanne im Alter von 31 Jahren malte, bemerkte Fry: »Man kann nicht umhin, es als gescheitert zu beschreiben.« Und weiter: »Talentiertere und ausgeglichenere Persönlichkeiten waren in der Lage, sich von Beginn an harmonisch auszudrücken. Doch so reiche, komplexe und widersprüchliche Menschen wie Cezanne erfordern eine lange Reifeperiode.« Was Cezanne versuchte, war derart schwer zu fassen, dass er es erst nach Jahrzehnten der Übung zu Wege brachte.
    Genau das ist das Vertrackte an Fountains langem Anlauf. Auf dem Weg zum Erfolg wirken Spätzünder wie Versager. Sie revidieren, verzweifeln, ändern den Kurs, zerschneiden Leinwände und produzieren dabei Arbeiten, die denen mittelmäßiger Künstler zum Verwechseln ähnlich sehen. Wunderkinder sind leicht zu identifizieren. Ihr Genie manifestiert sich von Anfang an. Spätzünder sind dagegen schwerer zu erkennen. Sie erfordern Geduld und blindes Vertrauen. (Zum Glück hatte Cezanne in der Schule keinen Berufsberater, der sich seine primitiven Zeichnungen ansah und ihm riet, es doch lieber mit einer Banklehre zu versuchen.) Angesichts dieser Spätzünder fragt man sich unwillkürlich, wie viele Künstler auf der Strecke bleiben, weil jemand vorschnell ihr Talent kleinredet. Doch das lässt sich nicht ändern. Woher sollen wir wissen, welcher Versager sich schließlich als Spätzünder entpuppt?
    Kurz nach meiner Begegnung mit Ben Fountain besuchte ich den Romanautor Jonathan Safran Foer, Autor des Bestsellers Alles ist erleuchtet aus dem Jahr 2002. Fountain ist leicht angegraut, zurückhaltend und bescheiden. Foer ist dagegen Anfang dreißig und sieht so aus, als dürfe er noch nicht Auto fahren. Fountain wirkt weich, als hätten ihm die Jahre des Kampfes die harten Kanten abgeschliffen. Während einer Unterhaltung mit Foer meint man dagegen, wenn man ihn anfassen würde, bekäme man einen elektrischen Schlag.
    »Ich bin eher durch die Hintertür zum Schreiben gekommen«, erzählte mir Foer. »Meine Frau ist Schriftstellerin, sie hat früher Tagebuch geschrieben. Wenn ihre Eltern gesagt haben: ›Licht aus, gute Nacht!‹ dann hat sie unter der Decke mit einer kleinen Taschenlampe gelesen. Ich glaube, ich habe sogar mit dem Lesen erst viel später angefangen als alle anderen. Es hat mich

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