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Was der Hund sah

Was der Hund sah

Titel: Was der Hund sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
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erst wieder getroffen, als ich mit dreizehn nach Chicago gezogen bin. Ich erinnere mich an einen Sonntag im Internat, an dem die Eltern ihre Kinder besucht haben. Meine Eltern sind nie gekommen. Ich habe gewusst, dass meine Eltern nicht kommen, aber ich bin raus gegangen und habe über die Felder geschaut, die Straße entlang.« Er machte eine Wellenbewegung mit der Hand, als wolle er die Landstraße andeuten, die sich am Horizont verlor. »Ich habe an der Straße gestanden und geweint, und habe bei jedem Auto gehofft, es könnten mein Vater und meine Mutter sein. Aber sie sind nie gekommen. Das ist alles, an was ich mich aus meiner Zeit im Internat erinnere.« Ron sitzt unbeweglich da. »Ich habe in meinem ganzen Leben nie eine Geburtstagsparty gehabt. Meine Großeltern haben uns aus dem Internat geholt, und wir sind nach Florida gezogen. Mein Großvater hat mich im Bett festgebunden, an Händen und Füßen. Warum? Ich hatte die Angewohnheit, auf dem Bauch zu liegen und mit dem Kopf auf und ab zu zucken. Warum? Wie? Keine Ahnung. Aber er hat mich am Bett festgezurrt, und wenn ich es mitten in der Nacht irgendwie geschafft habe, mich umzudrehen und zu zucken, dann ist mein Großvater aufgewacht und hat mich verdroschen.« Ron machte eine Pause, dann fügte er hinzu. »Ich habe ihn nicht ausstehen können. Meine Mutter und ihre Familie habe ich nicht gekannt. Das ist alles. Nicht viel, an das man sich erinnern könnte. Natürlich sind eine Menge andere Sachen passiert. Aber die sind alle weg.«
    Als Ron mit dreizehn Jahren mit seinen Großeltern nach Chicago zog, musste er in der Fabrik von Popeil Brothers arbeiten. Aber nur an den Wochenenden, wenn sein Vater nicht da war. »Zum Mittagessen gab’s Dosenlachs und Weißbrot«, erinnert er sich. »Ob ich bei meinem Vater gelebt habe? Nie. Ich habe bei meinen Großeltern gewohnt.« Als er Verkäufer wurde, gab ihm sein Vater nur eine einzige Hilfestellung: Er gab ihm Kredit. Mel Korey erzählt, er habe Ron einmal von der Universität nach Hause gefahren und vor der Wohnung des Vaters abgesetzt. »Er hatte einen Wohnungsschlüssel, und als er reinkam, war sein Vater schon im Bett. Sein Vater hat gefragt: ›Bist du’s, Ron?‹ Ron hat ›Ja!‹ geantwortet. Aber sein Vater ist nicht rausgekommen. Auch am nächsten Morgen hat ihn Ron nicht gesehen.« Später, als Ron sein eigenes Unternehmen gründete, wurde er bei Popeil Brothers zur unerwünschten Person. »Danach hatte Ron keinen Zutritt mehr«, erinnert sich einer der Partner von S. J. »Er durfte nicht mehr zur Tür rein. Er hatte keinen Anteil an gar nichts.« Ron sagt einfach: »Mein Vater war nur Geschäft. Persönlich habe ich ihn nicht gekannt.«
    Und das von einem Mann, der sein Leben nach dem Vorbild seines Vaters ausrichtete, der in das dasselbe Geschäft einstieg, sich mit derselben rückhaltlosen Leidenschaft den Küchengeräten verschrieb und seine Karriere mit dem Verkauf der Geräte des Vaters begann. Aber wo war der Vater? »Zusammen hätten sie Wunder vollbringen können«, sagt Korey kopfschüttelnd. »Ich erinnere mich, wie wir einmal mit K-tel über einen Zusammenschluss sprachen. Die meinten, zusammen wären wir eine Dampfwalze. Ron und sein Vater wären auch eine Dampfwalze gewesen.« Trotzdem wirkt Ron nicht im geringsten verbittert. Als ich ihn einmal frage: »Wer sind Ihre Vorbilder?«, nennt er ohne zu zögern seinen guten Freund Steve Wynn. Dann schweigt er einen Moment lang und fügt hinzu: »Und mein Vater.« Trotz allem ist das Vorbild des Vaters von unschätzbarem Wert für Ron. Und was machte er aus diesem Erbe? Er übertraf es. Er erfand den Showtime Grillofen, ein besseres Gerät als der Morris-Hobel, der Chop-O-Matic und der Veg-O-Matic zusammen.
    Als ich Arnold Morris in Ocean Township besuchte, führte er mich auf den jüdischen Friedhof Chesed Shel Ames, der auf einem kleinen Hügel über der Stadt liegt. In Arnolds weißem Mercedes fuhren wir durch die ärmeren Stadtviertel. Es regnete. Am Eingang zum Friedhof lungerte ein Mann im Unterhemd herum und trank Bier. Wir betraten den Friedhof durch ein kleines, verrostetes Tor. »Hier fängt alles an«, sagte Arnold, und meinte damit, dass alle, der gesamte leidenschaftliche und zerstrittene Klan, hier begraben waren. Wir gingen an den Reihen der Gräber entlang, bis wir in einer Ecke die Grabsteine mit dem Namen Morris fanden. Da war Nathan Morris, der Mann mit dem Strohhut und dem opportunen Herzinfarkt, und neben ihm seine Frau

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