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Was der Hund sah

Was der Hund sah

Titel: Was der Hund sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
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freier und rhythmischer. Seine Bewegungen werden koordinierter. Er läuft in die Arme seiner Mutter. Noch immer ist er verstört, aber sein Weinen ist jetzt ruhiger. Tortora setzt sich vor ihn hin, sicher und ruhig sieht sie ihm in die Augen.
    Erics Mutter fragt: »Willst du ein Taschentuch?«
    Eric nickt.
    Tortora bringt ihm ein Taschentuch. Erics Mutter sagt, dass sie ein Taschentuch braucht. Eric gibt seiner Mutter das Taschentuch.
    »Wollen wir tanzen?«, fragt Tortora.
    »Okay«, sagt Eric leise.
    Beim Anblick von Tortora und Eric muss man unwillkürlich an Cesar und JonBee denken. Beide mobilisieren dieselbe ungewöhnliche Energie, Intelligenz und Persönlichkeit, um den Schwachen zu helfen, und sie begegnen dem Chaos mit derselben Ruhe und Zärtlichkeit. Wenn wir von einem Menschen sagen, er oder sie habe Präsenz, dann meinen wir damit oft eine starke Persönlichkeit, die uns mitreißt. Wir denken an einen Rattenfänger von Hameln, der die Kinder nach seiner unwiderstehlichen Melodie tanzen lässt. Doch Cesar Millan und Suzi Tortora spielen je nach Situation unterschiedliche Melodien. Und sie lassen die andern nicht hinter sich her laufen. Cesar überließ JonBee die Führung, und Tortora richtete sich nach Eric. Präsenz bedeutet nicht nur, vielseitig zu sein, sondern auch, auf andere zu reagieren. Wir sagen gern, dass bestimmte Menschen unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, doch das stimmt so nicht. Sie bitten uns lediglich um unsere Aufmerksamkeit. Die Hunde auf der Spielwiese erwarteten, dass ihnen jemand sagte, wann sie anfangen und wann sie aufhören sollten; sie waren Flüchtlinge aus einer Welt der Anarchie und des Chaos. Eric wollte Riverdance genießen. Es war sein Lieblingsalbum. Tortora sagte nicht: »Lass uns tanzen«. Sie fragte: »Wollen wir tanzen?«
    Dann holt Tortora eine Trommel hervor und trommelt. Erics Mutter steht auf und geht in irischen Tanzschritten im Kreis herum. Eric liegt am Boden, und allmählich bewegt er seine Füße im Rhythmus der Musik. Er steht auf. Er geht in eine Ecke des Raums, verschwindet hinter einer Trennwand und kommt dann triumphierend wieder heraus. Er beginnt, im Kreis durch den Raum zu tanzen und spielt dazu eine imaginäre Flöte.
5.
    Im Alter von 21 Jahren verließ Cesar seine Heimatstadt Tijuana und bezahlte einem »Coyoten« 100 Dollar, um sich über die Grenze schmuggeln zu lassen. Sie warteten in einem Loch, das Wasser bis zum Hals, und rannten dann durch den Schlick und über einen Müllplatz zur Autobahn. Ein Taxi brachte ihn nach San Diego. Nachdem er Monate lang auf der Straße gelebt hatte und vor Schmutz starrte, fand er Arbeit in einem Hundesalon. Dort übernahm er die schwierigsten Fälle und schlief nachts im Laden. Dann zog er nach Los Angeles, wo er tagsüber in einem Limousinenverleih arbeitete und gleichzeitig in einem weißen Kleinlastwagen sein Institut für Hundepsychologie einrichtete. Mit 23 verliebte er sich in eine Amerikanerin namens Illusion. Sie war 17, klein, dunkel und sehr hübsch. Ein Jahr später heirateten die beiden.
    »Cesar war ein Macho und Egozentriker, der meinte, alles drehe sich nur um ihn«, sagt Illusion über ihre ersten Ehejahre. »Verheiratet sein hat für ihn bedeutet, dass der Mann der Frau sagt, was sie zu tun hat. Keine Zuneigung. Kein Mitgefühl und kein Verständnis. Die Ehe ist dazu da, den Mann glücklich zu machen, Punkt.«
    Kurz nach ihrer Hochzeit wurde Illusion krank und lag drei Wochen im Krankenhaus. »Cesar ist ein einziges Mal zu Besuch gekommen und weniger als zwei Stunden geblieben«, erinnert sie sich. »Ich habe mir nur gedacht, so funktioniert das nicht. Er wollte immer nur bei seinen Hunden sein.« Sie hatten ein Kind und kein Geld. Sie trennten sich. Illusion drohte Cesar, sie werde sich scheiden lassen, wenn er keine Paartherapie mache. Widerwillig stimmte er zu. »Die Therapeutin hieß Wilma«, erzählt Illusion weiter. »Eine kräftige Afroamerikanerin. Sie hat zu ihm gesagt: ›Sie wollen, dass Ihre Frau für Sie sorgt und das Haus sauber hält. Aber sie will auch was. Sie will Ihre Zuneigung und Ihre Liebe.‹« Illusion erinnert sich, wie Cesar wild auf einen Notizblock kritzelte. »Er hat sich’s aufgeschrieben. Er hat gesagt: ›Das ist es! Genau wie die Hunde. Die brauchen Bewegung, Disziplin und Zuneigung.‹« Illusion lacht. »Ich hab ihn erschrocken angestarrt, weil ich gedacht habe, was redest du von deinen Hunden, wenn es um uns geht?« »Ich habe mich gewehrt«, erzählt

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