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Was der Hund sah

Was der Hund sah

Titel: Was der Hund sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
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JonBee ist dysreguliert. Er kämpft nicht, sondern er hat einen Wutanfall. Und Cesar ist der verständnisvolle Vater. Wenn JonBee eine Pause einlegt, um nach Luft zu schnappen, dann macht auch Cesar eine Pause. Als JonBee ihn beißt, steckt Cesar instinktiv den Finger in den Mund, doch in einer ruhigen und flüssigen Bewegung, in der keinerlei Angst zum Ausdruck kommt. »Cesar hat ein einmaliges Gespür für Timing«, fährt Tortora fort. »Er macht einfache Bewegungen. Er macht eine Sache nach der anderen. Er verwendet ganz wenige unterschiedliche Bewegungen. Schauen Sie, jetzt nimmt er dem Hund Raum. Jetzt umschließt er.« Als sich JonBee beruhigt, streichelt Cesar ihn. Seine Berührung ist fest, aber nicht aggressiv. Mit seiner Körpersprache - der einfachsten und transparentesten aller Sprachen - vermittelt er JonBee ein Gefühl der Sicherheit. Jetzt liegt JonBee auf der Seite, mit entspanntem Kiefer und heraushängender Zunge. »Sehen Sie sich den Blick des Hundes an«, sagt Tortora. In seinem Gesicht spiegelt sich keine Niederlage, sondern Erleichterung.
    Später sollte Scott lernen, JonBee zu beruhigen, doch er schaffte es nicht. Cesar unterbrach ihn. »Sie sind immer noch nervös«, erklärte er. »Sie sind unsicher. So machen Sie sich zur Zielscheibe.« Einen Hund zu beruhigen, ist schwerer, als es klingt. Ein Klaps und ein Streichler reichten bei JonBee nicht aus, denn der achtete auf Gestik, Körperhaltung, Symmetrie und die exakte Bedeutung jeder Berührung. Er brauchte Klarheit und Stimmigkeit, und genau die ließ Scott vermissen. »Sehen Sie die Anspannung und Aggression in seinem Gesicht?«, fragt Tortora, als die Kamera auf Scott schwenkt. Es stimmte. Scott hatte ein langes, eckiges Gesicht mit hohen Wangenknochen und großen Lippen, und er bewegte sich zuckend und fahrig. »Er bombardiert den Hund mit Gesten, er ist schnell und angespannt. Seine Blicke sind scharf und stechend. Seine Gesten sind kompliziert. Es passiert zu viel gleichzeitig. Damit lenkt er mehr ab, als dass er etwas zeigt.« Scott ist Charakterdarsteller mit dreißig Jahren Filmerfahrung. Seine Spannung und seine Aggression machen seine Persönlichkeit für ein Kinopublikum interessant, aber für einen schwierigen Hund taugen sie nicht. Scott behauptete, er liebe JonBee, aber an seinen Gesten war das nicht zu erkennen.
    Tortora arbeitet seit einigen Jahren mit Eric, einem autistischen Jungen mit schweren Sprach- und Kommunikationsproblemen. Tortora hat einige ihrer Sitzungen aufgezeichnet. In einer, vier Monate nach Therapiebeginn, steht Eric mitten in Tortoras Studio in New York. Der dunkelhaarige, dreieinhalb Jahre alte Junge trägt nichts als eine Windel. Seine Mutter sitzt abseits an einer Wand. Im Hintergrund läuft der Soundtrack zu Riverdance, Erics Lieblingsalbum. Eric hat einen Wutanfall.
    Er springt auf und rennt auf die Stereoanlage zu. Dann rennt er zurück, wirft sich auf den Bauch und rudert mit Armen und Beinen. Tortora wirft sich neben ihm auf den Boden und ahmt ihn nach. Er setzt sich hin. Sei setzt sich hin. Er zuckt. Sie zuckt. Er windet sich. Sie windet sich. »Als er herumgerannt ist, habe ich nicht gesagt: ›Lass uns lieber eine ruhigere Musik auflegen‹«, berichtet Tortora. »Ich kann ihn nicht abschalten, weil er sich nicht abschalten kann. Er kann nicht einfach von null auf Hundert und wieder zurück kommen. Jedem anderen Kind kann man sagen: ›Hol mal tief Luft und red mit mir.‹ Aber bei solchen Kindern funktioniert das nicht. Sie leben in ihrer eigenen Welt. Ich muss in diese Welt reingehen und ihn wieder rausholen.«
    Auf dem Bildschirm hockt Tortora auf den Knien und sieht Eric an. Er zappelt mit den Beinen, und sie nimmt seine Füße in die Hand. Langsam bewegt sie die Beine im Rhythmus der Musik. Eric steht auf, rennt in die Ecke des Raumes und wieder zurück. Tortora macht ihn nach, doch sie bewegt sich eleganter und flüssiger als er. Dann nimmt sie wieder seine Füße. Diesmal bewegt sie auch Erics Oberkörper und öffnet seine Hüfte mit gegenläufigen Drehungen. »Ich stehe über ihm und schaue ihn an. Ich bin ganz symmetrisch. Damit sage ich ihm: ›Ich bin stabil. Ich bin hier. Ich bin ruhig.‹ Ich halte seine Knie fest und gebe ihm einen sinnlichen Input. Fest und klar. Körperkontakt ist ein unglaubliches Mittel. Es ist wie eine Sprache.«
    Sie wiegt die Knie des Jungen von einer Seite zur anderen. Allmählich beruhigt sich Eric. Er reagiert auf die Musik, seine Beine bewegen sich

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