Was der Winter verschwieg (German Edition)
die Tür öffnete sich.
Sophie zögerte. Da war wieder dieses Gefühl, das sie manchmal hatte – wie eine eiskalte Faust, die sich um ihr Herz schloss. Es verriet ihr, wenn jemand log, wenn irgendetwas nicht stimmte – so wie jetzt. Die Lichter waren aus, der Raum wurde nur schwach von dem blauen Schimmer der Monitore und der elektronischen Ausrüstung erleuchtet. Drei Männer saßen in dem Zimmer. Zuerst dachte Sophie, sie wären bewusstlos umgefallen, betrunken. Dann stieg ihr der leichte Geruch nach Bittermandel in die Nase.
„Gas“, zischte sie Fatou zu. „Bleib draußen.“
Sophie hielt den Atem an. Dank ihres jahrelangen Schwimmtrainings konnte sie die Luft vermutlich länger anhalten als jeder, den sie kannte. Die Männer trugen die Uniform der Diplomatischen Schutztruppe. Sophie ging zu dem Opfer, das ihr am nächsten war. Es lag auf dem Boden. Sie berührte seine Schulter und merkte, dass sein Körper unnatürlich steif und unbeweglich war. Sie versuchte, nicht in sein Gesicht zu schauen – noch immer strömte Blut aus seiner Nase –, während sie nach dem winzigen Alarmknopf suchte, der an seinem Revers angebracht war. Sie drückte den Knopf und hoffte, dass er noch funktionierte und sofort das Team im Ballsaal alarmierte sowie eine Antiterroreinheit aus dem Hauptquartier in Rotterdam anforderte. Sie hatte allerdings keine Ahnung, wie lange es dauern würde, bis Hilfe eintraf.
Auf den Monitoren, die alle Ecken des Gebäudes zeigten, war nichts Außergewöhnliches zu sehen. Der Empfang war immer noch in vollem Gang. Sophie entdeckte einen Sicherheitsbeamten im Ballsaal. Nichts deutete darauf hin, dass er den Alarm gehört hatte, doch Sophie fand seine rasche, gezielte Art, sich zu bewegen, beruhigend. Die eine Hand ruhte auf dem mittleren Knopf seines Sakkos, und er murmelte etwas in sein Headset.
Sophie verließ den Überwachungsraum und holte erst einmal tief Luft. Dann schloss sie die Tür hinter sich und wandte sich an Fatou. „Ich denke, es hat funktioniert. Gleich werden sie alle evakuieren und dann …“ Fatou schaute sie nicht an, sondern zeigte auf etwas, das hinter ihr lag.
„Ne bougez pas“
, sagte jemand mit starkem Akzent, „
ou je tire.“
Ungefähr zwei Herzschläge lang ergaben die Worte für Sophie keinen Sinn. Dann wurde etwas von unten gegen ihren Kiefer gedrückt.
Keine Bewegung oder ich schieße.
Ein zweiter Mann erschien hinter Fatou, und Sophie erkannte, dass er die ganze Zeit da gewesen war, versteckt im Schatten. Angezogen wie ein Sicherheitsagent, hatte er ein knochiges, blasses Gesicht und drückte dem Mädchen eine Schusswaffe unters Kinn.
„Oh, bitte nicht. Sie ist doch noch ein Kind. Tun Sie ihr nichts“, bat Sophie.
Ein dritter Mann, ein Afrikaner, der ebenfalls wie ein Agent angezogen war, kam zu ihnen und trat gegen die Tür zum Sicherheitsbüro. Mit zwei Schritten hatte er den Raum durchquert und riss die Fenster auf. Also hatte Sophie mit dem Gas recht gehabt.
Es war zu früh, um Angst zu haben. Zu surreal, um zu verstehen, dass sie mit einem Zucken des Fingers eines Fremden Geschichte wäre. Sie sagte nichts, doch ihr Herz klopfte so laut, dass sie sicher war, jedermann könne es hören. Zwei Menschen beherrschten ihre Gedanken: Max und Daisy, ihre Kinder. Sie würde sie vielleicht nie wiedersehen. Im Geiste ließ sie das letzte Mal Revue passieren, als sie die beiden gesehen, mit ihnen gesprochen hatte. Ihr gestriges Telefonat mit Max. Hatte sie voller Liebe und Respekt mit ihm gesprochen? Oder war sie in Eile und fordernd gewesen? Daisy warf ihr immer vor, zu fordernd zu sein. Nein,
anspruchsvoll
war das Wort. Sie war zu anspruchsvoll.
„Merde“
, fluchte einer der Männer – der Afrikaner –, als er sich näher zu einem Monitor beugte, der die Bilder aus der Eingangshalle übertrug. Die Sicherheitsagenten im Ballsaal hatten reagiert. Mit gezogenen Waffen gaben sie Order, das Gebäude zu evakuieren. „Der Alarm ist durchgegangen.“ Während er sprach, richtete er sich auf und drehte sich um. Mit einer seltsamen Eleganz schlug er Sophie mit dem Handrücken ins Gesicht.
Nie zuvor war sie geschlagen worden. Der Schock über den Angriff überwog den Schmerz. Dann fühlte es sich an wie damals, als sie von einem Feldhockeyschläger im Gesicht getroffen worden war. Sie sah weiße Blitze, gefolgt von Doppelbildern. Die Monitore verschwammen vor ihren Augen. Der Schlag drückte sie gegen den Mann mit der Waffe. Aus Furcht, dass er panisch
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