Was der Winter verschwieg (German Edition)
ihr.“
Sophie ignorierte ihn, inklusive der Tatsache, dass ein Mörder eine Waffe auf sie gerichtet hielt. Sie konzentrierte sich ganz auf das Mädchen und drückte zusammengefaltete Stoffservietten auf ihre Wunde. Irgendwie hatte der Schuss aus nächster Nähe sie nicht getötet. Vielleicht hatte es nicht sein sollen.
„Lass sie jetzt in Ruhe“, befahl der Mann erneut.
Sophie schaute nicht einmal auf. Sie agierte wie fremdgesteuert, so als hätte irgendetwas von ihr Besitz ergriffen. Nicht Mut oder eine höhere Form von Mitgefühl oder Wut, eher die felsenfeste Überzeugung, dass sie nicht noch einen weiteren Tod mit ansehen konnte. Selbst wenn das bedeutete, dass man sie erschoss.
Man erschoss sie nicht, aber der afrikanische Junge zog sie von Fatou weg. Die Männer gaben den Befehl aus, dass alle am Boden bleiben mussten. Einige der Terroristen schlossen die Türen und verriegelten sie von innen. Wir sind Geiseln, dachte Sophie. Wir sind gekidnappt worden. Der große Franzose und der blonde Mann, der vorhin noch Champagner serviert hatte, fingen eine hitzige Diskussion darüber an, ob sie bleiben und verhandeln oder hinter einem menschlichen Schutzschild fliehen sollten.
Sophie hatte das vorgeschriebene Gewaltpräventionsprogramm absolviert, und dabei war auch das Thema Geiselnahme behandelt worden. Wie für alles andere in ihrem Arbeitsgebiet gab es auch hierfür ein Akronym. Leider erinnerte sie sich nicht mehr daran. E-I-S … irgendwie so etwas. E wie Evaluation der Situation. Das war einfach. Die Situation sah schlecht aus. Sehr schlecht. I wie isolieren. Den Angreifer isolieren. Doch was danach kam … daran erinnerte sie sich nicht mehr.
Sie wusste, unter Politikern war es extrem populär zu sagen, dass man mit Geiselnehmern nicht verhandelte, aber diese Einstellung war sehr riskant. Die Hauptstrategie bei einer Geiselnahme bestand darin, Zeit zu schinden. Eine andere, Uneinigkeit unter den Geiselnehmern zu fördern. Das taten diese bereits ganz gut allein, was Sophie als gutes Zeichen nahm. Sie war die Einzige, die noch stand; der ängstliche, gefährliche Junge hielt sie immer noch fest. Brooks Fordham sah so aus, als wollte er etwas sagen. Sobald er in Sophies Richtung schaute, schüttelte sie unmerklich den Kopf.
Nein.
Einer der Caterer bemerkte, dass der Journalist sich im Saal umschaute, und trat ihm völlig emotionslos gegen den Kopf. Ohne einen Laut von sich zu geben, sackte Brooks zusammen. Tariq rief die Verbrecher auf Arabisch zur Ordnung und erntete damit die gleiche Reaktion – sein schönes Gesicht wurde von der Spitze eines großen Stiefels zerschmettert. Sophie wurde vor Übelkeit ganz schwindelig.
Gleichzeitig verspürte sie eine erdrückende, überwältigende Sinnlosigkeit. Sie und Dutzende anderer hatten alles gegeben, um Frieden und Gerechtigkeit wiederherzustellen, aber immer noch wurden Menschen unterdrückt und getötet. André lag tot im Innenhof. Mit leerem Blick starrte Sophie Fatou an und erkannte, dass sie sich selbst etwas vorgemacht hatte, als sie gedacht hatte, etwas in der Welt bewirken zu können. Gier und Skrupellosigkeit waren die ewigen Feinde des Friedens. Die Wahrheit war, dass nichts – kein noch so großes Opfer, kein noch so gut gemeinter Einsatz von Diplomatie – das Töten aufhalten und die Welt von Menschen wie diesen befreien konnte.
Sie schätzte, dass der französisch sprechende Afrikaner ein Vasall von General Timi Abacha war, der sich gemeinsam mit dem Diamantenhändler Serge Henger dem Prozess vor dem ICC entzogen hatte. Selbst wenn die Presse diese Männer also als Terroristen bezeichnen würde, die ihrer Sache fanatisch ergeben waren, wusste Sophie es besser. Hier ging es nicht um irgendjemandes Ideale oder Gerechtigkeitssinn. Es ging noch nicht einmal um Rache, sondern nur um Geld. Nicht um ein Glaubenssystem oder die Familie oder Patriotismus. Ihre „Sache“ war schlicht und ergreifend Gier. Die Vorgänge vor Gericht und der Einsatz der UN-Truppen hatten sie ihres Vermögens beraubt, und das wollten sie nun zurück.
Auf eine gewisse Art vereinfachte das die Situation. Es war nur ein Geschäft.
„Wenn ihr Kinder als Geiseln nehmt, hat das nur zur Folge, dass die ganze Welt euch hassen und jagen wird. Ihr wollt doch nicht, dass die Welt euch hasst“, sagte Sophie. Ihr Kiefer schmerzte noch immer von dem Schlag, den sie erhalten hatte, und erschwerte ihr das Sprechen. „Ihr wollt doch nur, was man euch genommen hat.“
„Wir wissen
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