Was der Winter verschwieg (German Edition)
Kleid, ein traditionelles Gewand, das durch die Jugend des Mädchens noch bezaubernder wirkte.
„Besser?“, fragte Sophie.
„Im Moment schon.“
Sophie legte zwei Euro auf den Teller der Toilettendame und trat wieder auf den leeren Flur hinaus. Durch ein Fenster in der Außenwand konnte sie die weißen Flocken sehen, die immer schneller und dicker auf die Erde fielen und von den Flutlichtern draußen beleuchtet wurden. Bald würden der Innenhof und der Garten komplett unter einer weißen Decke liegen.
„Wie fühlt es sich an?“, fragte Fatou sie leise.
„Der Schnee?“ Sophie traf eine spontane Entscheidung, was recht untypisch für sie war. Schnell nahm sie Fatou bei der Hand und zog sie Richtung Ausgang zum Innenhof. „Komm. Das findest du am besten selbst heraus.“
Sophie war bewusst, dass es riskant war, sich auch nur für ein paar Minuten von einer offiziellen Veranstaltung zu entfernen. Aber an diesem Abend fühlte sie sich seltsam leichtsinnig. Der Fall, der sie Tag und Nacht beschäftigt hatte, war abgeschlossen. Ihre Kinder waren am anderen Ende der Welt in der sonnigen Karibik und erlebten mit, wie ihr Vater zum zweiten Mal heiratete. Nie zuvor hatte sie sich so ausgeschlossen und einsam gefühlt und war sich gleichzeitig so bewusst gewesen, wie flüchtig einiges auf der Welt war, zum Beispiel Schnee in Holland. Eine Begrüßung durch eine Königin. Eine Nationalhymne, gesungen von Waisenkindern. Oder die Jugend eines Mädchens, das schwanger war, bevor es die eigene Kindheit noch ganz hinter sich gelassen hatte.
Der Torbogen, der von zwei großen Sicherheitskameras überwacht wurde, bildete den Rahmen für eine verwandelte Welt. Fatou schnappte nach Luft und sagte etwas in ihrer Landessprache. Dann blieb sie zögernd unter dem Baldachin stehen. Sophie trat in den schnell fallenden Schnee hinaus und wandte das Gesicht gen Himmel, um die weichen Flocken auf ihren Wangen zu spüren.
„Siehst du, er ist ganz harmlos“, sagte sie. „Und sehr viel angenehmer als Regen.“
Fatou traute sich zu ihr hinaus. Ihr Gesicht spiegelte pures Erstaunen wider. Das Gefühl des Schnees auf ihrer Haut ließ sie verzaubert auflachen. Alles war jetzt mit einer unberührten Schneeschicht bedeckt. „Das ist er wirklich,
madame“
, sagte sie. „Was für ein erstaunliches Phänomen, dieser Schnee.“
Sophie versuchte, sich das Bild von dem Mädchen, das sein Gesicht zum Himmel gewandt hatte und lachte, als Schneeflocken sich in seinen Wimpern verfingen, einzuprägen. Dieser Augenblick mit Fatou war eine Erinnerung daran, dass es auf der Welt selbst an den unwahrscheinlichsten Orten Schönheit und Freude gab. Sie deutete auf einzelne Schneeflocken, die auf einer niedrigen Gartenmauer landeten, jede ein winziges, perfektes Wunder der Natur.
„Sie sehen aus wie klitzekleine Blumen“, meinte Fatou.
„Ja.“ Sophie nahm Fatou an der Hand. Sie beide froren inzwischen. „Wir sollten wieder hineingehen.“
In dem Moment hörte sie etwas. Schritte und eine kehlige Stimme. Schnell drehte sie sich um und sah einen schwerfälligen Schatten auf sie zukommen. „Geh hinein“, drängte sie Fatou. „Schnell. Ich bin in einer Minute bei dir.“
Sophie erkannte die Form seiner Schultern, die sich gegen das Außenlicht abzeichneten. André? Sie runzelte die Stirn. Stolpernd taumelte er um die Ecke des Gebäudes, seine dunklen Fußabdrücke zogen eine gewundene Spur hinter ihm her. Sie fragte sich, was mit ihm passiert war. André war ein praktizierender Moslem. Er trank niemals. Sophie eilte ihm hinterher.
„André“
, sagte sie. „
Qu’est-ce qui ce passe?
Was ist passiert?“
„Madame“
, murmelte er und sank mitten im Schnee auf die Knie. Dann kippte er zur Seite um, wie ein Bär, der von einem Jäger erwischt worden war.
In irgendeinem Augenblick zwischen dem Zeitpunkt, an dem er gesprochen hatte, und dem, in dem sein Kopf auf den Boden aufschlug, verwandelte Sophies Verwirrung sich in eiskalte Gewissheit. Nein, schrie sie innerlich, auch wenn sie wusste, dass es keinen Zweck hatte, es zu leugnen.
Sie sank neben André auf die Knie. Die Kälte, die durch ihr Kleid und ihre Strumpfhose drang, spürte sie kaum. „Bitte, oh bitte, mach, dass es ihm gut geht.“
Doch noch während die Worte ihren Mund verließen, wusste Sophie, dass es bereits zu spät war. Sie hatte noch nie zuvor einen Menschen sterben sehen, doch als es jetzt passierte, spürte sie instinktiv, was vor sich ging. André stieß einen
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