Was der Winter verschwieg (German Edition)
werden und den Abzug drücken würde, schloss sie die Augen.
„Stopp“, befahl einer der anderen Männer. „Der Alarm ist ausgelöst worden. Vielleicht brauchen wir sie noch.“
Wofür? fragte Sophie sich. Ihr stieg ein Geruch in die Nase, den der Mann, der ihr die Waffe an den Kopf hielt, ausströmte. Angstschweiß. Sie hatte keine Ahnung, woher sie das wusste, aber irgendwie erkannte sie den Gestank der Panik – scharf und bitter und viel gefährlicher als kalte Entschlossenheit. Vielleicht würde er dem Befehl gehorchen, vielleicht nicht. In der nächsten Minute könnte sie schon tot sein.
Einfach so.
Sie konzentrierte sich auf die Monitore. Die Agenten im Saal hatten die Situation bereits unter Kontrolle. Die weiß gekleideten Kellner lagen auf dem Boden, und der Raum wurde zügig evakuiert. Gott sei Dank, dachte Sophie. Danke …
„Vite“
, sagte der Franzose. „Nehmt das Mädchen auch mit.“
Sophie wurde brutal die Treppe hinuntergestoßen und dann über den Flur zum Servicebereich gezerrt. Eine Gruppe Agenten kam auf sie zu. Sophie zuckte zusammen, als der Lauf einer Waffe aufblitzte. Die Männer hielten sie und Fatou wie Schilde vor sich.
„Lasst die Waffen fallen, oder die Frauen werden sterben“, rief der Franzose, während er sich einen Weg in den Ballsaal erzwang.
Vier der Agenten gehorchten sofort. Ein fünfter zögerte und machte einen Schritt auf den Franzosen zu. Das Zischen eines schallgedämpften Schusses vibrierte durch den Raum, und Fatou sackte zu Boden. Nein, dachte Sophie. Bitte, Gott, sie ist doch noch ein Kind.
Eine Frau schrie, und der fünfte Agent ließ seine Waffe fallen und hob die Hände.
Dank des von Sophie ausgelösten Alarms waren viele der Gäste vermutlich schon in Sicherheit gebracht worden. Die Königin und der Premierminister waren nirgendwo zu sehen. Die übrigen Gäste wurden nun in der Mitte des Saals zusammengetrieben und mussten sich dort mit dem Gesicht nach unten auf den Boden legen. Sophie hätte beinahe aufgeschrien, als sie Tariq erblickte, dessen schwarze Augen bei ihrem Anblick Funken sprühten. Ihr Instinkt riet ihr, sich auf niemanden im Besonderen zu konzentrieren, um denjenigen nicht in den Fokus der Terroristen zu bringen. Sie sah den Reporter Brooks Fordham, der sie dumpf anstarrte, und betete, dass er ruhig bleiben würde. Der Attaché mit seiner Familie war auch noch da. Er hatte seine Arme schützend um seine Lieben gelegt, in seiner Miene spiegelte sich bittere Wut. Und erhöhte Wachsamkeit.
Einige der Kinder waren noch im Saal. Sie hätten als Erstes evakuiert werden sollen, und doch lagen vier von ihnen jetzt auf dem Boden. Alle waren gespenstisch still, selbst die ganz Kleinen. Sie kamen aus einem vom Krieg zerrissenen Land. Vermutlich hatten sie schon weit Schlimmeres mitgemacht als das hier.
Der Franzose übernahm schnell die Kontrolle über die Situation. Er erteilte den Männern in den Caterer-Uniformen Befehle. Sie sprangen auf, durchsuchten die Agenten nach Waffen und schon war der Spieß umgedreht. Die als Caterer-Personal gekleideten Männer holten ihre eigenen Waffen heraus, die sie verdeckt hinter gestärkten weißen Leinentüchern in den Servierwagen hineingeschmuggelt hatten. Das Massaker wurde in völliger Stille vollzogen. Sophie wusste, egal wie lange sie lebte, nie würde sie die gespenstische, unerwartete Stille dieses Augenblicks vergessen, in dem die fünf Agenten schnell und mit eisiger Kälte hingerichtet wurden. Die Morde wurden beinah mechanisch ausgeführt, was sie umso grausamer machte.
Zum ersten Mal erhaschte Sophie einen Blick auf ihren Geiselnehmer. Er war Afrikaner, jung, seine Wangen waren noch kindlich gerundet, in seinen Augen lag ein Fieberglanz, der vermutlich von Drogen stammte. Sie konnte nur beten, dass bereits eine Antiterroreinheit durch die Stadt raste, um ihnen zu Hilfe zu eilen.
Besorgt schaute Sophie zu Fatou, die reglos und blutend auf dem Boden lag. Das Mädchen gab ein Geräusch von sich, einen geflüsterten Hilferuf. Sophie ging einen Schritt auf sie zu, doch ein barscher Befehl ließ sie mitten in der Bewegung erstarren.
Aber nur für einen Augenblick.
„Das ist absurd“, sagte sie. „Das hier ist der Friedenspalast. Hier lassen wir keine Kinder sterbend auf dem Boden liegen.“ Sie ging neben dem Mädchen in die Knie. Fatou blutete, aber sie war bei Bewusstsein. Sie blinzelte und stöhnte vor Schmerzen.
„Stopp“, befahl der Franzose. „Rühr sie nicht an. Geh weg von
Weitere Kostenlose Bücher