Was der Winter verschwieg (German Edition)
dass sie Medaillen besonders gut zur Geltung brachten. Dann erkannte sie, was sie tat – sie versuchte, sich von diesem großen Moment abzukapseln. Sie konnte nicht anders. In ihrem Leben fehlte etwas, und es gelang ihr nicht, so zu tun, als wäre es anders. Wie konnte es sein, dass sie einen solchen Triumph erlebte und ihre Familie nicht dabei war? Der Gedanke ließ einen Anflug von Feindseligkeit gegenüber Greg in ihr aufsteigen. Heute war auch ein großer Tag für ihn, obwohl sie wünschte, nicht ständig daran denken zu müssen. Aber es passierte nun einmal nicht jeden Tag, dass der Ehemann – der Exehemann – eine andere heiratete.
Ein Podium und ein Mikrofon konnten den normalsten Menschen in einen ausschweifenden Redner verwandeln. Sophie fühlte sich inmitten der anderen Würdenträger auf der Bühne wie gefangen. An diesem Abend hatte sie leichtsinnigerweise zweieinhalb Gläser Champagner getrunken. Die Konsequenz davon war, dass sie den langen Reden über die historische Bedeutung dieses Abends mit einer so vollen Blase zuhörte, dass sie das Gefühl hatte, jeden Moment zu platzen.
Niemand schien es besonders eilig zu haben, das Podium zu verlassen. Sie konnte nicht einen Moment länger warten. Sie musste sich entscheiden, was der größere diplomatische Fauxpas war: das Podium zu verlassen, bevor sie offiziell entlassen war, oder sich vor den Augen der Königin in die Hose zu machen.
Sophie trat einen Schritt zurück und zur Seite, sodass sie von den anderen Menschen auf der Bühne verdeckt wurde. Dann folgte sie den schwarzen Stromkabeln auf dem Boden. Am hinteren Ende stieg sie vom Podium herunter und schlüpfte durch eine Seitentür, die auf einen leeren Flur hinausführte.
Sie bog um eine Ecke und stieß auf eine Gruppe Männer in dunkler Kleidung, deren Schulterpartie feucht von schmelzendem Schnee war. Sie reagierten äußerst wachsam und wirbelten zu ihr herum. Sophie erstarrte und hielt in einer abwehrenden Geste die Hände mit den Handflächen nach vorne hoch. Sicherheitspersonal, dachte sie. Denen kam alles verdächtig vor. „Tut mir leid“, murmelte sie. „Ich suche die Toiletten.“
Sie folgte den Zeichen zur Damentoilette. Im Vorzimmer lächelte sie der Toilettendame freundlich zu, einer älteren, müde aussehenden Frau, die eine holländische Klatschzeitung las.
Sophie ging auf die Toilette und trat danach an eines der Waschbecken, um sich frisch zu machen. Aus einer der Kabinen kamen die unverkennbaren Geräusche von jemandem, der sich übergab. Reizend. Was für ein Idiot würde sich auf so einer Veranstaltung betrinken? fragte Sophie sich. Da sie keine Handtasche dabeihatte, konnte sie nicht mehr tun, als ihre Haare mit feuchten Händen in Form zu bringen und sich mit einem Papierhandtuch das Gesicht abzutupfen.
Die Kabinentür öffnete sich. Ein Teenager kam heraus. Es war Fatou, das Mädchen, das früher am Abend so wunderschön gesungen hatte. Trotz ihrer dunklen Haut sah sie blass aus, doch ihre Augen waren klar und nicht gerötet von Alkohol oder Drogen. Mit beiden Händen stützte sie sich auf den Rand eines Waschbeckens. Das Haar fiel ihr ins Gesicht. Sie drehte den Wasserhahn auf, spülte sich den Mund aus und wusch sich das Gesicht, aber irgendwie sah sie danach noch schlechter aus.
„Du wirkst krank“, sagte Sophie auf Französisch zu ihr. „Soll ich versuchen, einen Arzt für dich zu finden?“
„Nein danke,
madame“
, erwiderte Fatou. „Ich bin nicht krank.“ Sie berührte ihren Bauch.
Sophie war nicht sicher, was sie dazu sagen sollte. Das Mädchen war eindeutig zu jung, um eine Familie zu gründen, und doch hatte sie etwas an sich, das Sophie bekannt vorkam. Ein winziger Funke Aufregung, gemischt mit Verzweiflung. Sophie erkannte es, weil sie es auch schon erlebt hatte – und ihre eigene Tochter ebenfalls. „Du erwartest ein Kind“, sagte sie leise.
Fatou starrte auf den Boden.
„Hast du jemanden, der sich um dich kümmert?“
Das Mädchen nickte. „Ich bin Studentin im Praktikum und wohne bei einer Familie in Lille, was unter diesen Umständen ein Segen ist. Auch wenn ich fürchte, dass meine Gasteltern darüber nicht sonderlich glücklich sein werden.“
„Das wird schon. Nicht gleich von Anfang an, aber … irgendwann.“ Sophie sprach aus Erfahrung. Traurigkeit und Bedauern wallten in ihr auf. Sie war nicht für Daisy da gewesen, so wie ihre eigene Mutter nicht für sie da gewesen war.
Fatou trat einen Schritt zurück und richtete ihr
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