Was der Winter verschwieg (German Edition)
fürchterlich rasselnden Atemzug aus, dann verstummte er. Sein Körper wurde schlaff. Alles entspannte sich. Einen Moment starrte Sophie ihn ungläubig an. Sie hatte doch gerade erst mit ihrem Fahrer gesprochen, einem Mann, der entschlossen war, für ihre Sicherheit zu sorgen. Jetzt war ihm Gewalt angetan worden.
Der heiße, metallene Geruch nach Blut war so stark, dass Sophie gar nicht glauben konnte, ihn nicht schon vorher wahrgenommen zu haben.
André hatte Verletzungen in der Brust und im Bauchbereich. Vielleicht auch noch an anderen Stellen. Sie wusste nicht, ob es Stich- oder Schusswunden waren. Sie hatte beides noch nie aus der Nähe gesehen. Während sie neben ihm kniete und die Geschwindigkeit spürte, mit der die Wärme seinen Körper verließ, fühlte sie sich, als wenn ihr eigenes Blut aufgehört hätte zu zirkulieren und sie einfach zu Boden gefallen wäre. Er lag so still da, seine kräftige Gestalt von goldenem Licht umrahmt.
Sophie schaute sich um und fand den Innenhof gespenstisch leer vor. Sie rief nach Hilfe, ihre Stimme hallte über den Hof. Einer Panik nahe, versuchte sie, seinen zerrissenen und blutigen Mantel wieder zurechtzurücken. „Bitte“, sagte sie wieder und wieder, ohne zu wissen, worum sie bat. „Bitte.“ Sie legte sich auf ihn, drückte ihr Gesicht an seines, als wenn sie ihm auf diese Weise Leben einhauchen könnte. Das hier war André, ihr Freund, ein sanfter Riese, der niemandem jemals etwas angetan hatte, der ihr treu ergeben war, auf ihre Sicherheit achtete, wo auch immer Sophie hinging.
Noch immer unter Schock, gelang es ihr nur ganz langsam, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. André war gekommen, um sie zu suchen. Nicht, um Hilfe zu finden oder ihr ein letztes Lebewohl zu sagen. Das wäre nicht seine Art. Nein, er hatte sich gezwungen, so lange durchzuhalten, bis er Sophie gefunden hatte. Und ihr fiel nur ein Grund ein, warum er so etwas tun sollte: um sie zu warnen.
5. KAPITEL
S chon einige Male zuvor hatte Sophie sich gefragt, wie sie wohl in einer Krise reagieren würde. Wäre sie hilflos? Sie wusste es nicht, hoffte aber, dass sie nicht hysterisch werden oder sich wimmernd in einer Ecke zusammenkauern würde. Jetzt, als es so weit war, reagierte sie ganz anders als gedacht. Sie erstarrte, errichtete eine Mauer um sich herum. Es fühlte sich an, als würde eine dicke Eisschicht sie von allen Emotionen abschirmen. Und genauso musste es auch sein. Wenn sie auch nur das kleinste Gefühl zuließe, würde sie zusammenbrechen und wäre verloren.
Hinter ihr erklang ein Geräusch. Panisch zuckte Sophie zusammen. „Fatou. Du hast mich erschreckt. Ich habe dir doch gesagt, dass du hineingehen sollst.“ Doch trotz ihrer Worte war sie froh, das Mädchen bei sich zu haben.
Fatou wirkte seltsam resigniert. Offensichtlich war das hier nichts Neues oder gar Schockierendes für sie.
„Es tut mir sehr leid,
madame“
, sagte sie. „Kannten Sie ihn?“
„Er war mein Fahrer.“ Doch er war mehr als das gewesen, ein Mann, der ihr gegenüber stets loyal und ergeben gewesen war, obwohl sie sich nie sicher gewesen war, das auch verdient zu haben. Sie wusste, dass er mit nichts in den Händen nach Holland immigriert war und allein in einer Wohnung im Außenbereich des Statenkwartiers wohnte, aber sie hatte ihn niemals dort besucht. Jetzt wünschte sie, sie hätte. Doch das waren alles Dinge, die sie später allein würde betrauern können, sofern sie sich erlaubte, das Eis in ihrem Inneren aufzutauen und wieder etwas zu fühlen.
Sie packte Fatou bei der Hand und zog das Mädchen mit sich in die Schatten des Palasts. Es schneite noch immer. Dicke nasse Flocken, die sich bereits auf Andrés Körper niedergelassen hatten. „Wir müssen einem Sicherheitsagenten Bescheid sagen“, sagte Sophie und ging ins Gebäude voran. Im Korridor zögerten sie, blieben einen Moment stehen und lauschten. Sophies erster Impuls war, in den Saal zu stürmen und Alarm zu schlagen, zu erzählen, dass jemand ihren Fahrer ermordet hatte. Doch ein ungutes Gefühl ließ sie zögern.
Sie war sicher, dass der Mord an André kein Zufall war. Nervös schaute sie sich um, entdeckte jedoch niemanden. „Wir sollten da nicht wieder rein“, flüsterte sie. „Wir gehen zum Büro des Sicherheitsdienstes.“ Überall hingen Kameras, doch die hatten André auch nicht geholfen. Sophie klopfte an die Tür. Als sie keine Antwort erhielt, drückte sie in der Erwartung dagegen, sie verschlossen vorzufinden. Doch
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