Was der Winter verschwieg (German Edition)
letzte Nacht Panik bekommen habe, als ich das ganze Blut sah.“
„Machen Sie sich keine Sorgen. Viele Leute können den Anblick von Blut nicht ertragen.“
Sie war kurz davor, mehr zu sagen, zu erklären, dass der Anblick und der Geruch von ihrem Blut ein so tiefes Grauen in ihr geweckt hatte, dass sie kurzzeitig vergessen hatte, wo sie war. Doch sie schwieg. Hier, in dieser friedlichen, verschneiten Umgebung, war es schwer, sich die Gewalt und das Chaos vorzustellen, das sie überlebt hatte. Er würde vermutlich glauben, sie denke sich das alles nur aus.
„Ich bräuchte ein paar meiner Sachen. Ist der Rest meines Gepäcks immer noch im Auto?“
„Ja. Ich hole es und bringe es auf Ihr Zimmer.“
„Nein, lassen Sie nur. Ich mach das schon.“
„Nicht mit diesem Knie. Und für mich ist das kein Problem. Wirklich.“
„Okay, dann … danke.“
Mit diesen Worten floh sie aus der Küche und eilte die Treppe hinauf. In ihrem Zimmer angekommen, rief sie Daisy und Max an, erreichte aber beide Male nur die Mailbox. Sie legte auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Ohne Zweifel nahmen die beiden an, dass sie aufgrund des Wetters in der Stadt geblieben war.
Das Badezimmer auf ihrer Etage strahlte mit seinen altmodischen Lichtschaltern und Armaturen einen ganz besonderen Charme aus. Sophie ließ Wasser in die tiefe, auf Klauen stehende Badewanne laufen und sank mit einem dankbaren Seufzen hinein. Ihr verbundenes Knie legte sie über den Wannenrand, dann lehnte sie sich zurück und bedeckte ihre Augen mit einem warmen, nassen Waschlappen.
Es fühlte sich seltsam an, keinen Plan für den Tag zu haben. Das war etwas, das Sophie noch nie gemacht hatte – einfach nichts zu tun. Ab dem Augenblick, an dem ihr erstes Kind das Licht der Welt erblickt hatte, war sie in eine Tretmühle geraten, überzeugt davon, alles haben zu können – Ehe, Familie, Karriere und Erfolg. Sie hatte sich nicht gestattet, innezuhalten oder mal ein wenig kürzerzutreten.
Erst eine Gruppe Terroristen hatte geschafft, was zuvor niemandem in Sophies Leben gelungen war – sie dazu zu bringen, an die Oberfläche zu schwimmen und nach Luft zu schnappen. Die Ironie des Ganzen entging ihr nicht.
Indem sie Techniken nutzte, die sie in der Folge des Vorfalls gelernt hatte, lenkte sie ihre Gedanken um. Noch gelang es ihr nicht, ihren Geist ganz frei zu machen – das fühlte sich für sie nicht richtig an. Doch anstatt zu planen, zu betrachten, zu bedauern, konzentrierte sie sich darauf, den Moment in all seinen Facetten wahrzunehmen.
In diesem jetzigen Moment machte sie der Fremde, der sie gerettet hatte, sehr neugierig. Noah Shepherd, der Tierarzt. Er schien gut in dieses große, weitläufige Farmhaus zu passen. Er hatte zarte, heilende Hände, und in dem Chaos mit ihrem Unfall hatte sie ihm vollkommen vertraut. Sie wusste nicht, warum. Vielleicht lag es an seinen Bärenkräften und der Tatsache, dass er es vorzog, sie nicht einzusetzen. Oder an dem besorgten Ausdruck auf seinem Gesicht – einem ungewöhnlich männlichen Gesicht mit markantem Kinn, auf dem der Hauch eines Bartschattens lag, umwerfenden Wangenknochen und einem sexy Lächeln.
„Du projizierst deine Wünsche auf ihn, Sophie“, ermahnte sie sich und stützte sich am Wannenrand ab, um aufzustehen. „Du willst, dass er ein Held ist, weil du gerettet werden willst. Umsorgt. Beschützt.“ Man hatte ihr gesagt, dass sie noch eine Weile anfällig für das Stockholmsyndrom wäre – die bizarre Neigung von Geiseln, mit ihren Entführern zu sympathisieren. Vielleicht hatte Noah Shepherd sie auch entführt. Vielleicht war sie seine Geisel und wusste es nicht einmal.
Während sie sich die Vorstellung durch den Kopf gehen ließ, Noah Shepherds Geisel zu sein, trocknete sie sich ab, wickelte sich ein Handtuch um den Kopf und zog sich an. Sie würde so bald wie möglich Kleidung kaufen müssen, die für dieses Wetter angemessener war. Ihre Hose, die sie tags zuvor getragen hatte, war eh hin. Glücklicherweise hatte sie noch eine weitere mit. Eine aus weichem Kamelhaar mit Seidenfutter, die Art Hose, die sie anzog, um eine Aussage von einem Monarchen oder Politiker aufzunehmen. Oder, dachte sie, um mit einem Landtierarzt zu frühstücken.
Vorsichtig zog sie die Hose über ihr verletztes Knie und wählte dazu denselben schwarzen Pullover, den sie am Vortag getragen hatte. Dann zog sie ihre Stiefel an und spürte förmlich Noah Shepherds stumme Missbilligung. Die Stiefel waren nicht warm
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