Was der Winter verschwieg (German Edition)
und wegen der hohen Absätze viel zu gefährlich für dieses Wetter. Zu schade, dachte sie. Sie hatte definitiv nicht damit gerechnet, hier eingeschneit zu werden. Sie kämmte sich die Haare, legte ein wenig Lipgloss auf und fühlte sich endlich wieder ein bisschen wie ein Mensch. Erneut versuchte sie, ihre Kinder anzurufen, erreichte aber wieder niemanden. Vielleicht nutzten sie den verschneiten Tag, um einmal ordentlich auszuschlafen.
Sophie ging auf den Flur hinaus und schaute sich flüchtig um. Okay, sie schnüffelte ein wenig herum. Bei dem Haus schien es sich um die für Upstate New York typische Bauweise zu handeln – helle, quadratische Räume und viel Holz. Es gab mehrere Zimmer, die aussahen, als wären sie seit Jahren von niemandem mehr betreten worden – ein Wandkalender, der auf April 2005 eingestellt war, bestätigte diesen Eindruck. Das ist ein echt riesiges Haus für einen einzelnen Mann, schoss es ihr dabei durch den Kopf.
Sie ging nach unten, wobei sie sich Zeit nahm und die gerahmten Fotos betrachtete, die an der Wand des Treppenaufgangs hingen. Sie reichten von sepiafarbenen, weichgezeichneten Porträts aus den 1920er-Jahren bis zu modernen Bildern von lächelnden Fremden. Über die Generationen war eine starke Familienähnlichkeit auszumachen, auch wenn Sophie nicht wirklich wusste, wie Noah in die Gruppe hineinpasste.
Am Fuß der Treppe blieb sie stehen, um einen Blick in das vordere Zimmer zu werfen. Der Einrichtung nach zu urteilen, war Noah ein Mann, der sich keine Mühe gab, zu verstecken, was ihm wichtig war – ein riesiges Sofa, eine große Stereoanlage, ein Breitbildfernseher und ein Stapel Spiele. Das Zimmer hätte auch von einem Vierzehnjährigen eingerichtet worden sein können. In einer Ecke des Wohnzimmers standen ein Schlagzeug, ein Keyboard, zwei Mikrofone und eine verwirrende Anzahl an Lautsprechern. Das Ganze sah aus wie eine Mischung aus Farmhaus und Studentenwohnheim.
Gegenüber dem Wohnzimmer auf der anderen Flurseite gab es einen formellen Salon, der nicht oft benutzt zu werden schien. Ein Erkerfenster bot einen wundervollen Ausblick über die breite, leicht abschüssige Rasenfläche und die von Bäumen gesäumte Auffahrt. Zumindest nahm Sophie an, dass es sich um Rasen und Auffahrt handelte, denn im Moment lag alles unter einer dicken weißen Schneedecke.
Hinter der Grundstücksgrenze verlief die Straße, die allerdings derzeit auch keinerlei Ähnlichkeit mit einer Straße aufwies. Irgendwo da unten lag ihr Auto im Graben.
Von diesem erhöhten Punkt aus konnte sie in der Ferne zwei Hütten ausmachen, die beide unter Schnee begraben lagen. Das Haus der Wilsons war das mit den Mauern aus Flusssteinen und dem Giebeldach. Dahinter breitete sich der Willow Lake aus, der im Winter genauso prachtvoll aussah wie im Sommer. Er war komplett zugefroren.
Warmer Wind aus der Ofenheizung blies durch ein Gitter im Fußboden. Sie hätte den ganzen Tag hier stehen bleiben, auf die weiße Pracht schauen und sich ihre Zukunft vorstellen können. Dann erregte eine Bewegung ihre Aufmerksamkeit. Eine Gruppe Menschen betrat den Vorgarten. Eine Familie, dachte sie und verspürte einen Stich, als sie Noah Shepherd darin erkannte. Er ging neben einer Frau in einem blauen Skianorak. Gemeinsam zogen sie einen Schlitten mit drei kleinen Kindern hinter sich her.
Oh, dachte sie. Natürlich ist er verheiratet. Natürlich ist er ein Familienmensch. Er ist viel zu anziehend, um noch frei zu sein. Die Ereignisse des Abends hatten sie wohl zu sehr verwirrt, um nicht daran zu denken.
Während sie zuschaute, hob er das größte der Kinder hoch. Es war ein Junge von ungefähr sechs Jahren. Er schwang das Kind so wild durch die Luft, dass es lachte. Die beiden jüngeren lachten auch und klatschten in ihre behandschuhten Hände. Ein ausgewachsener Hund und ein goldfarbener Welpe, die gemeinsam durch den Schnee tobten, vervollständigten die Szene. Was für ein idyllisches Bild einer Familie, dachte Sophie. So etwas sah man sonst nur auf Weihnachtskarten. Noah schien in dem Spiel mit den Kindern voll in seinem Element zu sein. Er war der Typ Mann, der dazu geboren war, Vater zu sein. Er hatte einfach diese Ausstrahlung.
Aber irgendetwas passte nicht. Sophie nahm ihren Mantel vom Garderobenständer im Flur und zog ihn an. Es war die Art, wie Noah sie angesehen hatte, als sie am Morgen in ihrem Negligé in die Küche gekommen war. Das und die Tatsache, dass keine Frau jemals ein Wohnzimmer wie das hier
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