Was der Winter verschwieg (German Edition)
war ein weiterer grau-weißer Wintertag, der See lag unter einer noch dickeren Schneeschicht. Das schwache Nachmittagslicht fiel flach auf den Schnee. Aus dem großen Panoramafenster ihrer Hütte konnte sie eine Kurve in der Straße sehen, eine Haarnadelkurve, um genau zu sein, und das Ufer, das steil zum See hin abfiel. An der Stelle stand ein Hinweisschild an der Straße, außerdem war die Kurve mit einer lächerlich unzureichenden Leitplanke gesichert. Als sie ein Auto dort entlangfahren sah, verspannte sie sich unwillkürlich.
Sie wandte sich ab und konzentrierte sich wieder auf den Willow Lake. Tina drehte ihre nachmittäglichen Runden auf den Schlittschuhen. Es war Sophie unmöglich, Tina zu sehen und nicht an das zu denken, was Bo Crutcher ihr erzählt hatte – dass Tina und ihre Partnerin ein Baby haben wollten und Noah gebeten hatten, es ihnen zu ermöglichen. Das Leben in dieser kleinen Stadt war weitaus interessanter, als Sophie es sich je vorgestellt hätte.
„Der Vorfall ist Vergangenheit“, versicherte sie Tariq. „Du glaubst das nicht, aber es stimmt. Ich bin darüber hinweg.“
„Nein, du bist davor davongelaufen.“
Sie lächelte. „Charlie hat letzte Woche einen zweiten Zahn bekommen, hab ich dir das schon erzählt?“
„Ja, mehrmals. Außerdem hast du mir Fotos davon gemailt.“
„Und ich bin diese Woche mit dem Fahrdienst zum Eishockeytraining dran.“
„Der Spaß in deinem Leben nimmt einfach kein Ende.“
„Ich habe mit meinem Nachbarn geschlafen“, platzte es aus ihr heraus. „Mehr als einmal.“
Einen Herzschlag lang herrschte Schweigen. Dann sagte Tariq: „Das ist super. Hast du wirklich?“
Sophie legte sich den Arm quer über den Bauch und tigerte wieder auf und ab, während sie es Tariq erklärte. Sie übersprang den Teil mit dem Unfall, durch den sie mitten in einem Schneesturm im Graben gelandet war, sondern sagte nur, dass sie ihn an ihrem ersten Abend in Avalon kennengelernt hatte. „Er ist der klassische, robuste Naturbursche. Außerdem ist er Tierarzt.“
„Ach, ich wusste gar nicht, dass du in einer Episode von ‚Der Doktor und das liebe Vieh‘ mitspielst.“
„Sei nicht so herablassend. Es war ’ne ganz spontane Geschichte.“ Allein beim Gedanken an Noah wurde ihr warm ums Herz. „Aber wir gehen nicht miteinander aus. Wir kennen uns ja kaum. Aber trotzdem ist da irgendwas zwischen uns … ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Das sexuelle Gegenstück zu einem brennenden Streichholz, das in eine Kerosinpfütze geworfen wird.“
„Mannomann. Das klingt, als wenn dir der Umzug tatsächlich gutgetan hat.“
„Ich muss zugeben, das war einer der einfacheren Aspekte meines neuen Lebens.“
„Und hast du dich schon mit deinem Ex auseinandergesetzt?“
„Wir begrenzen unsere Zusammenkünfte auf ein Minimum. Ehrlich gesagt tut es weh, Greg und seine neue Frau zusammen zu sehen. Es tut weh, mit anzusehen, wie sehr er sie verehrt und wie glücklich sie sind. Es zerreißt mir schier das Herz, und es gibt nichts, was ich dagegen tun könnte.“
„Außer deinen Nachbarn zu vögeln.“
„Das stimmt natürlich. Dr. Maarten würde sagen, ich entdecke neue Facetten meiner Persönlichkeit. Oder zapfe vielleicht meine ungeahnten sexuellen Energien an.“
Genug davon, beschloss sie und wechselte das Thema, in dem sie Tariq nach den Vorgängen bei Gericht und dem Fortgang seiner aktuellen Fälle fragte. Während sie ihm aufmerksam zuhörte, verwandelte sich das anfängliche Interesse in eine unbändige Sehnsucht. Ein Teil von ihr gehörte immer noch in diese Welt, wo sie eine Mission hatte, wo die Herausforderungen schwer, aber nicht unmöglich zu meistern waren, wo sie die Kontrolle hatte und stets zu einem Abschluss fand.
Doch ein anderer Teil von ihr erinnerte sie daran, warum sie hierhergekommen war. Ihre Reise hatte gerade erst begonnen.
Sie legte auf und schaute sich prüfend im ganzen Haus um. Alles sollte fröhlich und einladend wirken. Später würde Max nach der Schule vorbeikommen. Nach dem Eishockeytraining würde sie ihm Abendessen machen – sein Leibgericht, Bolognese Burger – und dann würde er über Nacht bleiben.
Ein Klopfen an der Tür erschreckte sie. Sie schaute auf die Uhr. Zu früh für Max. Sie öffnete die Tür und sah sich Gayle vom anderen Ende der Straße gegenüber.
„Ich wollte ein paar Muffins vorbeibringen“, sagte sie und nahm die Kapuze ihres Parkas ab. Lächelnd hielt sie Sophie eine flache Tupperschüssel
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