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Was der Winter verschwieg (German Edition)

Was der Winter verschwieg (German Edition)

Titel: Was der Winter verschwieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Wiggs
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Während der Essensausgabe konnte sie beobachten, dass die ausgestoßenen Schüler, die mit kühler Würde auf ihre Peiniger reagierten, meistens in Ruhe gelassen wurden.
    Sophie wusste, dass sie im Vergleich mit diesen Müttern, die sie so streng verurteilten, den längeren Atem hatte. Es war eine Gabe, diese Fähigkeit, sich durch nichts verletzen zu lassen. Über die Jahre hatte sie einen dicken Panzer um ihr Herz herum errichtet. Es war eine Frage des Selbstschutzes und des eigenen Überlebens. Wenn sie sich offen gab, war sie verletzlich. Wenn sie sich verschloss, war sie ein Fels. Aber nach der Geiselnahme war ihr schützender Panzer aufgebrochen, und sie war nun anfällig für das, wovor sie sich am meisten fürchtete – verletzt zu werden. Menschen zu enttäuschen. Es nicht zu schaffen, eine tiefe, bedeutungsvolle Verbindung zu ihren Kindern aufzubauen.
    Sie schaute sich in dem kleinen, vollgestopften Zimmer um, sah sich die Postkarten an, die an der Korkwand hingen und vermutlich von Daisys Freunden stammten, die jetzt auf dem College waren oder die Welt bereisten. Post-its mit kleinen Listen hingen überall; die meisten waren mit kleinen Kritzeleien oder Schnörkeln verziert, was Sophie daran erinnerte, wie jung Daisy noch war. Sie betrachtete ein ominöses Zitat, das ihre Tochter aufgeschrieben hatte: „Es ist Furcht einflößend, etwas zu lieben, was der Tod berühren kann.“ Ein anderes Zitat aus der Rocky Horror Picture Show: „Don’t dream it, be it.“ Eine Terminkarte vom Zahnarzt. Sophies Wissen nach war Daisy noch nie in ihrem Leben freiwillig zum Zahnarzt gegangen.
    Ihre Fotos waren katalogisiert und beschriftet wie von einem ausgebildeten Archivar. Sophies Blick blieb an einem Stapel dicker Fotoalben hängen, die auf einem Regal lagen. Vor allem das mit der Aufschrift
Familie bis 2006
erregte ihre Aufmerksamkeit. 2006 – das Jahr der Scheidung.
    Sophie öffnete das Album und fand eine Chronik ihres gemeinsamen Familienlebens. Mit einer schmerzhaften Mischung aus Trauer, Stolz, Bedauern und Wehmut betrachtete sie die Fotos. Die Bellamys waren wie jede normale Familie gewesen, ihr gemeinsames Leben erfüllt von wirklich glücklichen Momenten – Geburtstagen, Feiern und Feiertagen, Ferien und Abenteuern. Viele der Bilder weckten Erinnerungen, die Sophie ein Lächeln auf die Lippen zauberten. Daisy hatte es immer geliebt, auf die überlebensgroße Alice-im-Wunderland-Statue im Central Park zu klettern. Es gab Bilder von ihr und welche von ihr und Max gemeinsam, wie sie inmitten der anderen Kinder auf der abgegriffenen Bronzeskulptur herumkletterten. Seite um Seite gefüllt mit Ferien, Schulveranstaltungen, Ausflügen und Geburtstagen.
    So komprimiert auf den Bildern dargestellt, schienen die Jahre nur so dahingeflogen zu sein. Da war Daisy als weizenblondes Krabbelkind, wie sie auf einem Stuhl stand und sich vorbeugte, um die beiden Kerzen auf ihrem Geburtstagskuchen auszublasen. Ein paar Seiten weiter gab es ein Foto von ihr am Willow Lake auf dem fünfzigsten Hochzeitstag ihrer Großeltern. Sophie war zwar auf vielen Bildern zu sehen, doch oft stand sie eher am Rand des Geschehens. Eher Zuschauerin als aktive Teilnehmerin. Oft trug sie ihre übliche Bürokleidung und hatte ihre Aktentasche irgendwo in der Nähe stehen. Durch die Art, wie sie sich kleidete – dunkler Anzug, geschmackvolle Pumps, zurückgebundene Haare –, wirkte es, als hätte sie sich über die Jahre nur wenig verändert. Sie hatte immer ausgesehen wie vierzig, selbst als sie erst fünfundzwanzig gewesen war.
    Indem sie sich die Fotos eines nach dem anderen anschaute, konnte sie dem langsamen Verfall ihrer Ehe nachspüren. Es war die bildhafte Chronik einer Beziehung, die sich langsam, aber sicher auflöste. Auf den frühen Bildern, als die Kinder klein waren und Greg und sie sich solche Mühe gegeben hatten, hatten sie breit gelächelt und Entschlossenheit und Hoffnung ausgestrahlt. Doch Stück für Stück war dieses Gefühl verloren gegangen. Es hatte sich so langsam davongeschlichen, dass sie seine Abwesenheit erst bemerkten, als es völlig verschwunden und nicht mehr wiederherzustellen war. Irgendwann zeigte sich der Stress auch auf ihren Gesichtern. Das Lächeln wirkte nicht mehr ganz so echt und erreichte nur selten die Augen. Es gab immer weniger Fotos, auf denen sie beide zusammen zu sehen waren. Ganz am Anfang hatte sie den Selbstauslöser der Kamera eingesetzt, und einer von ihnen war in letzter Sekunde noch mit

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