Was der Winter verschwieg (German Edition)
Charlie war ein guter Zuhörer. Sophie hatte sich angewöhnt, ihm alles aus ihrem Leben zu erzählen, von den kleinsten Dingen wie einer Tierspur, die quer über ihr Grundstück verlief, bis zu den großen Themen wie der Tatsache, dass sie immer noch Albträume wegen des Vorfalls in Den Haag hatte.
Charlie war einfach eine angenehme, freundliche Gesellschaft und offen für alles, was sie zu sagen hatte. Kürzlich hatte er gelernt, in die Hände zu klatschen, und tat es oft an genau den richtigen Stellen in ihrer Unterhaltung. Psychiater könnten von Babys noch eine ganze Menge lernen, so wie zum Beispiel, dass manchmal ein kleiner Applaus und ein zahnloses Grinsen mehr für die mentale Gesundheit eines Menschen bewirkten als jeder noch so gut gemeinte Rat.
In letzter Zeit drehten sich ihre Unterhaltungen meistens um Noah Shepherd.
„Verstehst du, er hat mir den Welpen geschenkt, weil er meinte, das wäre ein riesiger Anreiz für Max, mehr Zeit mit mir zu verbringen. Anfangs hat mich das sehr gekränkt. Ich meine, eine Mutter sollte nicht einen Welpen als Köder einsetzen müssen, oder?“
Der Ball rollte zum Rand der Decke. Sophie rollte ihn zurück. „Aber wie sich herausstellt, hat Noah recht“, gab sie zu. „Er weiß genau, wie ein zwölfjähriger Junge denkt. Es gibt nichts –
nichts –
, was eine größere Faszination auf einen Jungen ausübt als ein Hund. Max kann gar nicht genug von Opal kriegen. Sie ist ein wahrer Max-Magnet.“
Charlie stieß ein kurzes, verständnisvolles Lachen aus.
„Ich weiß. Wenn man darüber nachdenkt, ist es so offensichtlich. Was macht einem Kind mehr Spaß als ein Welpe, stimmt’s?“ Inzwischen war Opal stubenrein und blieb auch längere Zeit in ihrer Gitterbox allein. Einen Hund zu erziehen machte viel Arbeit, aber es hatte auch etwas für sich, alle paar Stunden nach draußen gehen zu müssen, sich die Beine zu vertreten, die kalte Luft einzuatmen und die Schneeflocken auf dem Gesicht zu spüren.
Im Moment war Max mit Opal spazieren. Vermutlich war er mit ihr zum Hügel am Avalon Meadow Golfplatz gegangen, wo gerade ein Rodelwettbewerb stattfand.
Charlie tauschte den Ball gegen ein quietschendes Spielzeug aus, das er sich sofort wie einen Maiskolben in den Mund steckte. Dann interessierte er sich für einen hässlichen Clown, der dank eines eingebauten Gewichts immer wieder aufstand, wenn man ihn umstieß. Charlie drückte den Clown wieder und wieder zu Boden und schaute fasziniert zu, wie er immer wieder aufstand.
„Du kannst nicht immer das Gleiche machen und erwarten, andere Ergebnisse zu erzielen“, erklärte sie dem Kleinen.
„Bah.“
Sie streckte die Hand aus und wischte sein Kinn ab. „Das mit Noah – was auch immer es ist – war das Letzte, was ich zu finden erwartet hatte, als ich hierhergezogen bin.“ Ihre Gedanken schweiften ab. „Manchmal frage ich mich, ob ich dabei bin, mich in ihn zu verlieben.“ Entsetzt schlug sie die Hand vor den Mund und murmelte: „Ich kann nicht glauben, dass ich das gerade gesagt habe.“
Charlie imitierte ihre Geste und lachte. Sophie zog ihn in die Arme und ließ sich auf der Decke auf den Rücken rollen, wobei sie sich den Kleinen über den Kopf hielt und das Gefühl genoss, das sie in diesem Moment überkam. Zufriedenheit. Nein, es war stärker. Glück.
Freude.
Ja, das war’s. Sie hatte beinahe vergessen, wie sich das anfühlte.
Es war nicht so, dass sie ein negativer Mensch war. Und das Leben hatte ihr einige freudige Augenblicke geschenkt. Aber keine wie diesen.
Sie fand einen Oldiesender im Radio und sang lauthals mit, während sie Charlies Fläschchen aufwärmte. „Nights in White Satin“ von den Moody Blues. „Mrs Robinson“ von Simon and Garfunkel. Woher kannte sie die Texte? Sie konnte sich nicht erinnern, sie jemals auswendig gelernt zu haben. Einige Dinge blieben einem wohl einfach im Gedächtnis.
Sie fütterte Charlie, und während er in ihrem Schoß dösend vor sich hin nuckelte, schaltete sie den Fernseher ein und zappte durch die Programme auf der Suche nach einem Sender mit internationalen Nachrichten. Es war wesentlich einfacher, ein Interview mit einem tätowierten Biker zu finden, der behauptete, der Vater des Babys einer Millionenerbin zu sein, als einen Bericht über die ersten unabhängigen Wahlen in Umoja. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten würde das Volk von Umoja wählen gehen, doch hier fand das Ereignis überhaupt nicht statt.
Sie schaltete von einer Heimwerkersendung, in
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