Was der Winter verschwieg (German Edition)
hatten sie erfasst. „Es gibt etwas, das ich dir schon länger erzählen wollte“, begann sie. „Es geht um das, was mir in Den Haag zugestoßen ist …“
„Ja? Was ist damit, Liebes?“ Seine Stimme war ganz sanft.
Sie sagte sich, dass sie sich ihm anvertrauen konnte. Noch nie hatte sie jemandem so vertraut wie Noah. Andererseits hatte sie auch noch nie jemanden so geliebt.
Sag es ihm.
„Ich habe das noch nie jemandem erzählt.“ Sie zeigte auf die Ausdrucke auf dem Couchtisch. „Nicht einmal Brooks. Du wirst in keinem seiner Artikel ein Wort darüber finden. Ich dachte, es wäre egal, wenn ich es für mich behalte, aber das stimmt nicht. Es ist nicht egal, Noah. Ganz im Gegenteil.“
Er breitete die Arme aus. „Würde es helfen, wenn ich dich halte?“
Sie nickte. „Das hilft immer.“ Sie lehnte sich gegen ihn, spürte seine Wärme und Stärke, den steten Rhythmus seines Herzschlags. „Erinnerst du dich, dass ich dir in der Nacht, als wir uns kennengelernt haben, sagte, ich hätte schon Schlimmeres erlebt als einen Schnitt am Knie?“
„Du hast einen Witz gemacht … irgendwas davon, mit vorgehaltener Waffe als Geisel genommen und mit einem fahrenden Van von einer Brücke gefallen zu sein“, erinnerte er sich. „Und … oh. Das war kein Witz, oder?“
„Ich war froh, dass du es für einen Scherz gehalten hast. Das machte die ganze Sache … weniger real, was mir eine Weile auch geholfen hat. Aber es ist passiert, und alles, was du über den Vorfall gelesen hast, stimmt. Jedes einzelne Wort. Die Lüge lag in dem, was ich
nicht
erzählt habe.“ Sie hielt inne, um tief durchzuatmen. Nun gab es kein Zurück mehr. „Etwas, was in dieser Nacht geschehen ist, habe ich noch niemandem erzählt, nicht einmal den Ärzten, die mich behandelt haben. Es ist die einzige Sache, der ich mich nicht stellen konnte. Ich habe immer noch Albträume deswegen. Ich denke immer noch an jene Nacht. Als es vorüber war, konnte man bei mir keine Anzeichen für ein posttraumatisches Stresssyndrom finden, doch ich bin immer noch gefährdet, was mir manchmal Angst macht. Es gibt hier Menschen, die sich auf mich verlassen …“
„Und Menschen, die dich lieben, Sophie. Vergiss das nicht.“
Er sorgte dafür, dass sie das nie vergaß. Aber sie musste nur ihre Augen schließen, um jene Nacht Revue passieren zu lassen, jene Szene im Lieferwagen, das Chaos und die Wut, ihre Verzweiflung und Entschlossenheit zu überleben. „Als der Van von der Brücke stürzte, sind drei Männer gestorben.“
„Oh Sophie. Das tut mir leid. Es ist schrecklich, dass du das durchmachen musstest …“
„Noah, hör mir zu.“ Sie drehte sich zu ihm um und zwang sich, ihm in die Augen zu schauen. „Es war meine Schuld. Ich war der Grund, warum der Wagen von der Brücke gestürzt ist.“ Sie erzählte ihm, wie für die Terroristen an dem Abend alles falsch gelaufen war und sie sich gezwungen gesehen hatten, ihre Pläne zu verwerfen und zu fliehen. Wie sie beschlossen hatten, Sophie als Geisel zu nehmen. Sie erzählte ihm, was in dem Lieferwagen gesprochen worden war, wie ihre Gewissheit, sterben zu müssen, sie zu der verzweifelten Tat getrieben hatte. Sie weinte jetzt und zitterte. „Sie sind tot, und das ist meine Schuld, Noah. Wie soll ich nur damit leben?“
„Sie sind gestorben, weil sie Mörder waren.“ Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und fing ihre Tränen mit seinen Daumen auf. „Und du hast zum Wohl deiner Familie überlebt, Sophie. Und weil du mutig bist und ein Herz hast, das so groß ist wie die ganze Welt.“
Nachdem Sophie Noah alles gebeichtet hatte, was in jener schicksalhaften Nacht geschehen war, fühlte sie sich einerseits wie ausgelaugt, andererseits hatte sich aber auch ein Knoten gelöst. Noah von dem Abend und der Nacht zu erzählen, von dem Terror und dem Trauma, das ihr Leben in eine völlig neue Bahn gelenkt hatte, hatte die Spannung in ihrem Inneren gelöst. Er war ein guter Zuhörer, hielt sie einfach nur fest, stellte keine Fragen, sondern akzeptierte alles, was sie zu sagen hatte. Sie erzählte ihm von André und Fatou und davon, wie hilflos sie sich gefühlt hatte. Er tat nicht so, als könnte er das nachvollziehen, versuchte nicht, ihr einen Rat zu geben, wie sie damit umgehen sollte. Er hörte einfach nur zu, und damit half er ihr mehr als jeder andere. Nach außen hin hatte sich nichts verändert, und doch fühlte sie sich wie ein völlig neuer Mensch. Es war schon spät, aber sie war noch nicht im
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