Was die Seele krank macht und was sie heilt
Geschwindigkeit an einem Spielplatz vorbeifährt und dadurch ein Kind zu Tode kommt, wird er sich in der Regel kaum noch des Lebens freuen können. Im Angesicht des toten Kindes scheint ein glückliches Leben nicht mehr möglich zu sein.
Doch es gibt eine Lösung. Sie besteht darin, sich dem ganzen Ausmaß der Schuld zu stellen und zu allen Folgen ja zu sagen. Das schmerzt sehr. Wenn der Mann im Angesicht dieser Schuld etwas Gutes im Leben macht, dann war all das Schlimme nicht umsonst. Umsonst allerdings wäre der Tod des Kindes gewesen, wenn sich der Mann sagt: »Nach all dem Schrecklichen hat mein Leben keinen Sinn mehr.« Depression, Krankheit und Leid sind für ihn letztlich einfache Wege, mit dem Erlebnis umzugehen. Größe würde darin liegen, im Angesicht der schweren Schuld noch etwas Gutes im Leben zu tun. In einem solchen Fall geht es dem Stellvertreter eines toten Kindes in einer Aufstellung nicht gut, wenn er sieht, wie der Schuldige sein Leben ungenutzt läßt.
Im Umgang mit einer persönlichen Schuld, so Hellinger, ist der traditionelle christliche Glaube lebensfeindlich. Im Christentum herrscht nämlich die Vorstellung, man müsse seine Schuld abtragen. Wenn aber jemand zu seiner Schuld steht, kann sie auch zu einer Quelle der Kraft werden. Schuldgefühle haben nur jene, die sich weigern, Schuld zu bekennen. Sie stellen sich nur dann ein, wenn jemand die Schuld verdrängt und in irgendwelche Erklärungen flüchtet.
Während das Schuldeingeständnis den Betreffenden stärkt, können ihn Schuldgefühle nur schwächen. Jemand, der zu seiner Schuld steht, kann außerdem Dinge vollbringen, die er ohne eine solche Schuld nie tun könnte.
Unglück als Preis für Errettung aus einer Gefahr
Nur wenn der Täter in eigener Person zu seiner Schuld steht, kann das gute Folgen haben, wenn aber ein Spätergeborener die Schuld des Früheren übernimmt, schwächt dies und bringt Unheil. Erinnert sei zur Verdeutlichung an die Geschichte »Der Rächer« (S. 58).
Diese Dynamik findet man auch in Familien von Kriegsverbrechern. Spätergeborene übernehmen aus Liebe die Schuld eines Täters. In Familienaufstellungen ist es bewegend, mitzuerleben, daß es den Täter zusätzlich beschwert, wenn sein Kind für ihn die Schuld trägt.
Für uns ist nicht zu durchschauen, warum bei einer Flugzeugkatastrophe oder bei einem anderen großen Unglück der eine überlebt und der andere nicht. Diejenigen, die überleben, trauen sich anschließend oft nicht mehr glücklich zu sein. Sind zum Beispiel Bergarbeiter in einem Stollen eingeschlossen, wird sich der Überlebende im Angesicht seiner toten Kumpel fragen: »Womit habe gerade ich es verdient, daß mich das Schicksal verschont hat?« Die Lösung wäre, daß er das Leben vom Zeitpunkt seiner Errettung an als besonderes Geschenk, als ein »zweites Leben«, betrachtet und dafür dankt. So kann er wieder normal leben, doch gehört zu einer solchen Haltung auch die Demut vor dem Schicksal.
Ähnlich ist die Dynamik bei jemandem, der als Kind fast ertrunken oder anderweitig beinahe umgekommen wäre. Wenn die Eltern nach der Rettung versäumen, zusammen mit dem Kind für das neu geschenkte Leben zu danken, wird das Kind sein Leben oft nur auf antriebsschwache Weise fortsetzen. Es lebt auf eine seltsam unbeteiligte Art, selbst noch als Erwachsener. Statt des unbewußten »Ach, eigentlich hätte ich ja tot sein sollen, wie kann ich da noch gut leben?« könnte es auch sagen: »Ich danke dem Schicksal, daß ich noch eine Chance bekommen habe. Ich nutze sie.«
Hier wird deutlich, wie sehr es auf die eigene Haltung ankommt.
Ich komme mit
Im Angesicht eines sterbenden Menschen, insbesondere wenn ein Kind Vater oder Mutter sterben sieht, ist ein unbefangenes Weiterleben schwer. Viele möchten am liebsten mitkommen.
Die Mutter einer Heroinsüchtigen hatte schon lange Krebs und lag im Sterben. In der Aufstellung ließ Hellinger das Mädchen zur Mutter sagen »Ich komme mit«. Dieser Satz traf den Kern, denn das Kind hatte das »Ich komme mit« völlig überzeugend gesagt. An diesem Punkt wurde die Aufstellung abgebrochen. Obwohl man kaum damit rechnen konnte, machte das Mädchen nach dem Tod der Mutter eine erfolgreiche Entziehungskur. Die ans Licht gebrachte Wirklichkeit hat im nachhinein noch etwas gewendet.
In einem anderen Beispiel heißt die Dynamik nicht »Ich komme mit«, sondern »Ich komme auch«. Eine an Brustkrebs erkrankte Frau sagte diesen Satz ihrem abgetriebenen Kind,
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