Was die Seele krank macht und was sie heilt
wäre ein anderer Satz in den Aufstellungen möglich: »Bitte segne mich, auch wenn ich bleibe.« Wenn ein Lebender es schafft, solche Sätze zu sagen, reagiert der Stellvertreter des Toten üblicherweise erleichtert, denn er weiß nun, daß es in der Familie gut weitergeht. Paradoxerweise stärkt es die Lebenskraft, wenn man sich den Toten nähert und sie liebevoll anspricht.
Mancher tut sich schwer, die lösenden Worte zu sagen. Läßt man dann den Klienten in die Augen des Toten blicken und ihn sagen: »Aus Liebe zu dir folge ich dir nach« oder »Aus Liebe zu dir lasse ich es mir schlechtgehen«, kann etwas in Bewegung geraten, denn solche Sätze spiegeln die Wirklichkeit. Durch das Aussprechen der Wahrheit, das manch ein Zuschauer als Provokation empfindet, wird dem Kranken möglicherweise klar, daß sein Opfer weder ihm noch dem Toten Nutzen bringt.
Der Kranke kann erkennen, daß seine Liebe die Grenze zwischen sich und dem geliebten Toten nicht überwindet und er die Grenze sogar respektieren muß. Der Tote hat ein Recht, als eigenständige Person betrachtet zu werden. Er will nicht einfach von der Liebe des Zurückbleibenden vereinnahmt werden. Um den Toten als eigenständiges Wesen zu achten, läßt Bert Hellinger einen Satz wie »Ich übernehme das für dich« so oft wiederholen, bis der Kranke den Toten als eigenständige Person wahrnimmt.
Doch nicht immer führt das Sagen des »Lieber ich als du« oder »Ich übernehme das für dich« zum Ziel. Zuweilen kommt es vor, daß der Aufstellende es mit tiefer Sehnsucht sagt. Hellinger respektiert dies, denn seine Aufgabe besteht darin, die Liebe des Kindes offenbar werden zu lassen. Wer solch eine Szene in einem Seminar miterlebt, mag zwar erschüttert sein, doch bei manch einem Kranken findet nach Wochen oder Monaten doch noch eine heilsame Neuorientierung statt. Wenn die alte Form von Liebe, die krank machende Liebe, bewußt geworden ist, kann die gleiche Liebe auch heilend wirken.
Ich folge dir nach
In dem Beispiel von der Frau, die an Krebs starb, ist nach Hellingers Erfahrung meist noch eine zweite Dynamik mit im Spiel. Wenn Eltern beabsichtigen, in den Tod zu gehen, und ihre Kinder das mit »Lieber ich als du« verhindern
wollen, steht auf seiten der Eltern im Hintergrund oft ein anderer Satz: »Ich folge dir nach.« Die Eltern sagen ihn als erwachsene Kinder ihren Eltern oder Geschwistern, wenn diese früh verstorben sind oder schwer krank waren, und folgen ihnen in Krankheit oder Tod.
Wenn ein Kind sieht, daß seine Eltern einem Toten oder Kranken nachfolgen, kann es sagen: »Lieber Vater, liebe Mutter, auch wenn du gehst, ich bleibe« oder »Auch wenn du gehst, ich halte dich in Ehren, und du bleibst immer mein Vater, und du bleibst immer meine Mutter.« Hat einer der Eltern Selbstmord begangen: »Ich verneige mich vor deiner Entscheidung und vor deinem Schicksal. Du bleibst immer mein Vater, und du bleibst immer meine Mutter; und ich bleibe immer dein Kind.« (OL: 375/376)
Kann der christliche Glaube manchmal lebensfeindlich sein?
Sowohl das »Lieber ich als du« als auch das »Ich folge dir nach« werden mit bestem Gewissen gesagt, denn der Betreffende fühlt sich dadurch im Einklang mit seiner Familie. Fis scheint mir bemerkenswert, daß es ein ehemaliger katholischer Missionar ist, der in diesem Zusammenhang auf die zuweilen krankheitsfördernde Wirkung des traditionellen christlichen Glaubens hinweist. Die beiden obigen Sätze entsprechen nämlich dem christlichen Vorbild. Hellinger führt die Worte aus dem Johannes-Evangelium an: »Eine größere Liebe hat niemand, als wer sein Leben hingibt für seine Freunde« und weist auf Jesu Forderung an seine Jünger, ihm auf dem Leidensweg zu folgen bis in den Tod. Genau betrachtet, lautet die Botschaft Jesu: Liebe und Tod bringen Erlösung. Die Vita vieler Heiliger bestätigt dem gläubigen Christen, daß man stellvertretend für andere Menschen Krankheit und Tod auf sich nehmen kann. Im Jenseits ernten wir die Früchte dafür.
Die im Christentum verbreitete Vorstellung, man könne dem Toten im Jenseits wieder begegnen, fördert bei manchen die Tendenz, das Leben geringzuschätzen. Der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod oder, wie in Asien, an die Reinkarnation kann eine Unterbewertung des Hier und Jetzt zur Folge haben.
Ein Kapitel in Hellingers Buch »Ordnungen der Liebe« ist überschrieben mit »Vom Himmel, der krank macht, und der Erde, die heilt«. »Himmel« stelle hier für den
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