Was die Toten wissen
kennengelernt, die ein Lied davon singen konnte, wie sehr Einschränkungen hauptsächlich finanzieller Art sie davon abhielten, die Wunder zu vollbringen, die die Öffentlichkeit von ihr erwartete. »Es gibt Dinge, die man sofort feststellen kann …«
»Was denn?«
Kay kam kurz ins Straucheln. »Na ja … auf jeden Fall Verletzungen. Gewalteinwirkung durch stumpfe Gegenstände oder Schusswaffen. Aber auch das Geschlecht und das ungefähre Alter.«
»Woher wissen Sie das?«
»Das weiß ich auch nicht so genau, aber offenbar verändert sich das Skelett in der Pubertät. Auf jeden Fall könnte Ihr alter Zahnarzt Ihre Schwester ziemlich schnell identifizieren. Soweit ich weiß, können Zahnärzte ganz gut ihre eigene Arbeit erkennen.«
»Dr. med. John Martielli«, erwiderte Heather verträumt. »Seine Praxis war oben, über der Drogerie. Bei ihm gab es
Highlights -Hefte im Wartezimmer mit Goofus und Gallant. Wenn wir kein Loch im Zahn hatten – und das hatten wir nie -, durften wir uns anschließend beim Bäcker um die Ecke aussuchen, was wir wollten, egal, wie viel Zucker drin war.«
»Sie hatten noch nie ein Loch?« Kay dachte an ihre eigenen schlechten Zähne. Erst dieses Jahr hatte sie alle Amalgam-Füllungen austauschen lassen, und nun standen neue Kronen an. Sie hatte in der Zeit vor und nach der Scheidung so mit den Zähnen geknirscht, dass zwei davon abgebrochen waren, als sie eines Tages in einen Müsliriegel biss.
»Nein, selbst als ich jahrelang nicht mehr zum Zahnarzt gegangen bin, weil ich mit Anfang zwanzig in keiner Krankenkasse war, waren meine Zähne immer tipptopp in Ordnung. Jetzt gehe ich jedes halbe Jahr zur Vorsorge.« Sie fletschte die Zähne zum Beweis. Gute Zähne, genialer Körperbau, super Figur, tolle Haut – würde Kay Heathers Geschichte nicht kennen, hätte sie sie ein bisschen dafür gehasst.
»Können wir mal kurz anhalten?«, fragte Heather unvermittelt und hielt sich den Bauch, als ob sie Krämpfe hätte.
»Wir sind sowieso schon spät dran, aber wenn Ihnen schlecht ist vom Autofahren oder Sie etwas zu essen brauchen …«
»Ich dachte, wir könnten vielleicht in die Mall gehen.«
»In die Mall?«
»Am Security Square?«
Kay warf Heather einen fragenden Blick zu. Es war schwierig, sie beim Fahren anzusehen, aber sie wusste aus Erfahrung mit Grace, dass Blickkontakt überbewertet wurde. Von ihrer Tochter erhielt sie mehr Auskünfte, wenn sie beide geradeaus durch die Frontscheibe sahen. Das Einkaufszentrum lag eine Ausfahrt weiter als die, wo man Heather Dienstagnacht aufgelesen hatte. »Wollten Sie ursprünglich dorthin?«
»Nicht bewusst, aber vielleicht ja. Wie auch immer, ich muss da jetzt hin, bevor ich das mache. Bitte, Kay? Zu spät zu kommen ist nicht das Schlimmste, was passieren kann.«
»Um die Polizisten mache ich mir weniger Sorgen, aber Gloria wird stinksauer sein! Für sie zählt nur ihre eigene Zeit.«
»Ich ruf sie auf Ihrem Handy an und erkläre ihr, warum wir nicht pünktlich sind.« Ohne zu warten, griff Heather nach dem Handy in der Becherhalterung zwischen den Sitzen und benutzte die eingehende Anrufliste, um Glorias Nummer herauszufinden und sie anzurufen. Sie ging ganz selbstverständlich mit dem Mobiltelefon um, ebenso vertraut mit technischen Spielereien wie Seth oder Grace. »Gloria? Hier Heather. Wir fahren gerade los. Der Exmann von Kay hat die Kinder zu spät abgeholt, und wir konnten sie ja nicht einfach alleine lassen, oder?« Sie ließ Gloria gar keine Zeit, zu antworten. »Bis gleich dann.«
Was für eine hervorragende Ausrede , dachte Kay. Heather hatte sich jemanden ausgesucht, den niemand kannte und niemand fragen würde.
Zu dieser Erkenntnis war sie im Bruchteil einer Sekunde gelangt, aber die Tragweite dieser Beobachtung schien ihr erst ganz aufzugehen, als sie auf die lang gezogene, gewundene Ausfahrt zum Security Boulevard einbog.
»Ich dachte, alles schrumpft, wenn man älter wird«, bemerkte Heather. »Aber das hier kommt mir viel größer vor. Haben sie die Mall ausgebaut?«
Sie befanden sich in jenem Teil, in dem laut Heather einst das Kino mit den beiden Sälen gewesen war. Für einen Samstagnachmittag war das Einkaufszentrum ziemlich leer. Kay erkannte ein paar der üblichen Läden wieder – ein Old Navy, einen Musikladen, ein Sears und ein Hecht’s -, mit den anderen Geschäften konnte sie allerdings nichts anfangen. Insgesamt war es ziemlich trostlos hier. Ein ehemaliges Kaufhaus, von dem Heather behauptete,
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