Was die Toten wissen
selbst vollkommen neue Erfahrungen wie diese. Sie sah weiße Pfauen über einen Hotelrasen in Cuernavaca stolzieren und brach in Tränen aus, um der Mädchen willen, denen die Tiere so gut gefallen hätten.
Aber das Schöne an einem erstklassigen Hotel, der eigentliche Grund, fünfundsiebzig Dollar pro Nacht zu zahlen, wenn man es für dreißig genauso bequem haben könnte, ist der, dass das Personal einem mit gleichbleibender Höflichkeit begegnet. Die Señora ist bestimmt müde nach ihrer langen Reise , sagte der Blonde zu den beiden Kofferträgern auf Spanisch, aber dennoch verstand ihn Miriam, weil er nicht so schnell sprach und die Worte nicht zu einem bunten Kauderwelsch zusammenzog. Sie wurde in ein blitzblankes Zimmer geleitet, wo ein Zimmermädchen ihr frisch gepressten Orangensaft brachte. Dann zeigte ihr das Mädchen die Annehmlichkeiten. Nichts war zu geringfügig, zu nebensächlich, um nicht erklärt zu werden. Sie wies auf einen Läufer auf dem Boden. Für Ihre Füße . Sie zeigte auf eine Obstschale. Für den Fall, dass Sie Hunger haben . Und zum Schluss legte sie ein kleines Kissen auf das schneeweiße Bett und drängte sie, sich hinzulegen. Für Ihren Kopf , übersetzte Miriam, für Ihren Kopf .
Miriam bedeutete ihr, dass sie gern ein Glas Wasser hätte, das selbst an diesem prunkvollen Ort destilliert oder gefiltert werden musste. Dann versuchte sie zu fragen, ob man sich zum Abendessen fein machen müsse oder ob sie Hosen tragen könne, und ging dabei so weit, dass sie den Reißverschluss ihres
Koffers öffnete und ihr die knitterfreien Seidenhosen, die obenauf lagen, zeigte. Cómo no , antwortete das Mädchen. Nicht warum nicht , sondern wie nicht , bemerkte Miriam. Noch so eine Redewendung, die sie erst lernen musste.
»¿Tiene sueño?« , fragte das Mädchen sie dann, und Miriam zuckte erschrocken zusammen, aber sie hatte nur gefragt, ob sie müde sei, nicht ob sie träume.
Sie ließ sich ins Bett fallen. Als sie aufwachte, war es bereits dunkel. Der Innenhof war voller Menschen, die zu Abend aßen. Sie nippte an einem Kir royale, knabberte geröstete Pinienkerne und versuchte, die Sprache, die sie kannte, auszuschalten und nur Spanisch in ihren Kopf und in ihr Herz zu lassen. Sie war hier, um neue Wörter, eine neue Sprache, eine neue Art des Seins zu erlernen. Heute hatte sie bereits ein paar Sachen gelernt und war an andere erinnert worden, die sie schon kannte. Sie würde von jetzt an »Hunger haben« und nicht mehr »hungrig sein«. Die erste Person nur zur Betonung benutzen. Und was am wichtigsten war, sie würde »warum« gegen »wie« austauschen. ¿Cómo no?
Kapitel 35
»Barb, meine Story ist weg!«
Diesen Aufschrei zu dieser Zeit am Nachmittag kannte sie bereits. Er kam immer von derselben Stelle, von einem unordentlichen Schreibtisch in der Ecke der Nachrichtenredaktion, einem Schreibtisch, auf dem sich Papier und Berichte so hoch türmten, dass man diejenige, die sich dahinter verbarg, kaum gesehen hätte, wäre da nicht ihre Frisur gewesen. Mrs. Hennessey, einer kleinen, extrem aufgetakelten Frau, kam ihre Arbeit oftmals just zum Abgabetermin abhanden, in den seltensten Fällen allerdings aufgrund eines Computerabsturzes. Es lag vielmehr daran, dass sie ihren aktuellen Artikel
in einem zweiten Arbeitsfenster hatte, das wiederum geschlossen war, oder sie hatte die gesamte Story versehentlich mit der »Speichertaste« kopiert und sie dann vom Bildschirm gelöscht.
»Lassen Sie mich mal sehen, Mrs. Hennessey.« Barb versuchte, den Rechner zu sich zu drehen. Er stand auf einem Drehgestell, sodass ihn zwei Redakteure nutzen konnten, aber Mrs. Hennessey hatte schlauerweise ein paar Nachschlagewerke daneben gestapelt, weshalb sie selten mit jemandem ihren Arbeitsplatz teilen musste. Barbara hieb in die Tasten und checkte die üblichen Fallen, doch Mrs. Hennessey hatte ausnahmsweise einmal recht – ihr Artikel war tatsächlich verschwunden. Als Barb der geisterhafte Zwilling davon im Backup-System begegnete, war es nur mehr eine leere Vorlage mit einer Überschrift und dem Erstellungsdatum.
»Haben Sie zwischendurch abgespeichert?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort bereits kannte.
»Na ja, ich habe am Ende eines jeden Absatzes den Tabulator betätigt.«
»Der Tabulator ist nicht zum Speichern. Sie müssen schon den Speichern-Befehl ausführen, Mrs. Hennessey.«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.« Mrs. Hennessey hatte es bereits gegeben, als Gott sozusagen noch ein kleiner
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