Was die Toten wissen
von einer schneidenden Bemerkung sein sollte. Aber ihr Gelächter provozierte die ältere Dame nur noch mehr.
»Oh, Sie halten sich wohl für was ganz Besonderes, wenn Sie mit ihrer engen Bluse und dem kurzen Rock durch die Redaktion wackeln und damit die Blicke der Männer auf sich lenken wollen. Denken Sie wirklich, jemand schert sich um Sie?«
Der Herausgeber hatte ihr bestätigt, dass sie wichtig war, sogar sehr wichtig. »Ich sehe nicht, was für eine Rolle meine Kleidung hier spielt, Mrs. Hennessey. Und ich finde ehrlich, dass Ihre Arbeit großartig war …«
»War? War? Ist. Meine Arbeit ist großartig, Sie, Sie … Rotznase!«
Wieder hätte sie am liebsten lauthals gelacht, über das, was die ältere Dame als Beleidigung ansah. Aber diesmal hatten Mrs. Hennesseys Worte ihre Wirkung nicht verfehlt, einen wunden Punkt getroffen. Sex, ihre eigene Sexualität, war ein heikles Thema, und sie trug keine kurzen Röcke. Wenn überhaupt, waren sie nach heutigem Maßstab sogar lang. Bei ihrer zierlichen Figur rutschten ihr die Röcke sowieso immer über die Hüften und hingen weiter unten. Mrs. Hennessey war mit
ihrer aufgetürmten Hochsteckfrisur und den Stöckelschuhen kaum kleiner als sie.
Was vielleicht erklärte, warum sie es völlig gerechtfertigt fand, die Diet Pepsi der älteren Dame zu nehmen und sie ihr über den wunderschönen, bebenden Haarknoten zu gießen.
Sie feuerten sie natürlich. Das heißt, sie stellten sie vor die Wahl, in Therapie oder mit zwei Wochen Gehaltsabfindung ganz zu gehen. »Ohne Arbeitszeugnis«, wie Bagley hinzufügte. Als ob sie darum bitten würde, als ob das wichtig wäre, wenn Barbara Monroe wieder verschwand und eine andere Frau ihren Platz einnehmen würde. Sie nahm die Abfindung.
Sie schlich sich in dieser Nacht noch einmal in die Redaktion und recherchierte, obwohl die Zeitung eher rudimentär mit entsprechenden Hilfsmitteln ausgestattet war. Der einzige Angestellte in der Dokumentation schuldete ihr noch was, und er wäre im Traum nicht darauf gekommen, warum Barb so viel über seine Arbeit und Recherchemöglichkeiten wissen wollte. Er hatte sich sogar geschmeichelt gefühlt, Barb zu zeigen, was ein gut ausgebildeter Archivar so alles mit einem Telefon und Zugang zu den Quellen anderer Stadtarchive anfangen konnte. Die Suche nach Grundstückseigentümern war zwar aufschlussreich, aber dazu bedurfte es Zeit und Geld, und momentan hatte sie weder das eine noch das andere. Ein paar Recherchen hatte sie innerhalb des letzten Jahres ohnehin schon auf Kosten der Zeitung durchgeführt. Dave Bethany wohnte immer noch in der Algonquin Lane. Von Miriam Bethany fehlte seit ein paar Monaten jede Spur. Stan Dunham wohnte noch unter der alten Adresse – aber sie hatte ja auch nie den Kontakt zu ihm abgebrochen.
Schließlich suchte sie sich eine neue Identität und eine neue Existenz aus den alten Unterlagen heraus, genau wie Stan es ihr beigebracht hatte. Es war wieder einmal an der Zeit, von vorn anzufangen. Was für eine Schande, dass sie diesen Job nicht in
ihrem Lebenslauf aufführen konnte, aber sie hatte beschlossen, nicht mehr bei der Zeitung zu arbeiten. Wenn sie erst einmal die Ausbildung nachweisen konnte, die sie brauchte, würde sie schon eine Firma finden, die ihre Fähigkeiten schätzte, in einer Branche, in der die Leute für ihre Fähigkeiten in angemessener Weise bezahlt wurden. Ein besserer Job als der bei der Fairfax Gazette ließ sich leicht finden. Lief es nicht immer so? Selbst in den verfahrensten Situationen hatte sie immer jemand aus dem Nest herausschubsen müssen, ihr einen Tritt in den Hintern geben müssen. Auch wenn sie an jenem Tag im Greyhound-Busbahnhof geweint hatte, während die anderen ihr lächelnd zugenickt und sie einfach für einen verängstigten Teenager gehalten hatten, der nicht von zu Hause wegwollte.
Nachdem sie ihre Recherche abgeschlossen hatte, hinterließ sie der Gazette zu guter Letzt noch ein kleines Abschiedsgeschenk. Als Mrs. Hennessey sich am nächsten Tag einloggte, brach das gesamte System zusammen und jeder einzelne Artikel, der noch in Arbeit war, wurde vernichtet, selbst diejenigen, die verantwortungsvollere Reporter gewissenhaft abgespeichert hatten. Da wartete sie bereits in einem Diner in Anacostia auf Stan Dunham. Er hatte versucht, sie dazu zu überreden, ihn weiter nördlich zu treffen, aber sie wollte auf keinen Fall die Bundesgrenze nach Maryland überschreiten. Und bis zum heutigen Tage hatte sie von Stan
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