Was die Toten wissen
diesmal langsamer. Miriam lachte und warf die Arme hoch, machte sich über ihre eigene Unkenntnis lustig. Die Frau grinste und lachte dann ebenfalls, sichtlich erleichtert, dass sie sich während der einstündigen Fahrt nach Süden nicht mit einer Gringa unterhalten musste. Sie lehnte sich in dem Sitz zurück, kramte in einer ihrer beiden Einkaufstaschen und zog etwas in Wachspapier Eingewickeltes hervor. Sie schob das Papier zurück und packte eine Mango auf einem dünnen Stiel aus, überzogen mit dicken Sprenkeln
von etwas, das offenbar Chilis waren. Jetzt, wo sie sicher im Bus saß, dem Ziel ihrer Reise nahe, war Miriam entspannt genug, um darüber zu staunen. Hätte sie die Chili-Mango vor fünf Minuten erblickt, während sie noch herumirrte, hätte sie sie Ekel erregend gefunden.
¿De dónde es? Das hatte die Frau gefragt. Wo kommen Sie her? Es war zu spät, um ihr zu antworten, und selbst wenn, was hätte sie sagen sollen? Sie war heute Morgen in Austin ins Flugzeug gestiegen. War sie deshalb eine Texanerin? Oder hätte sie ihren Geburtsort Kanada nennen sollen? Seit ihre Eltern gestorben waren, hatte sie keine Verbindung mehr dorthin. Für sie war Baltimore immer noch ihr Zuhause, aber Tatsache war, dass sie dort nur fünfzehn Jahre gelebt hatte und die letzten dreizehn in Texas verbracht hatte. Wo kam sie her? Das Einzige, was sie wusste, war, dass sie es gerade noch rechtzeitig aus Texas weg geschafft hatte; sie lief der schlechten Konjunktur davon, als ob diese eine mächtige Welle wäre, die den ganzen Strand wegspülte.
Sie hatte mehr Glück als Verstand gehabt. Anderthalb Jahre zuvor hatte sie ihr Haus verkauft, noch bevor die Immobilienpreise in den Keller purzelten. Zur gleichen Zeit hatte sie ein paar langfristige Kapitalanlagen abgestoßen, die sie von ihren Eltern geerbt hatte. Aber es war nicht so, dass sie den Börsenkrach 1987 vorhergesehen hätte oder den Wertverlust bei texanischen Immobilien, der unmittelbar darauf folgte. Sie hatte mit der Vorstellung geliebäugelt, früh in Rente zu gehen, und deshalb das ganze Geld auf Sparbücher eingezahlt. Da sie sich nicht sicher war, ob sie in Texas bleiben wollte, hatte sie sich auch kein neues Haus gekauft. Woanders würde ihr Geld viel weiter reichen. Es gab eine Menge Leute, die aus Texas wegwollten, und diese Leute hatten sich während der letzten Monate bei Miriam im Büro ausgeheult, vom Wertverlust ihrer Immobilien vor den Kopf gestoßen. »Wie kommt es, dass wir sogar noch etwas draufzahlen müssen?«, fragte eine junge
Frau schluchzend. Frechere Verkäufer forderten sogar, dass der Makler in solch einem Fall nichts bekommen sollte. Es war keine schöne Zeit.
Aber selbst wenn es mit der Wirtschaft wieder aufwärtsgegangen wäre, hätte Miriam dieselbe Entscheidung getroffen. Ihre stets optimistischen Maklerkollegen hielten sie für verrückt, vier Wochen freizunehmen, jetzt, wo die Frühjahrssaison losging. »Wie kannst du denn jetzt weg?«, fragten sie entsetzt. »Die Durststrecke ist bestimmt bald vorbei.« Sie würden sie für noch viel verrückter halten, wenn sie wüssten, dass sie nicht vorhatte, jemals wieder bei der Arbeit zu erscheinen. Sie wollte einen Monat lang einen Spanisch-Intensivkurs machen und sich dann einen Ort zum Leben suchen. In den Staaten würde dieser Traum noch mindestens ein Jahrzehnt auf sich warten lassen. Aber hier in Mexiko, wo der Dollar momentan sechzehnhundert Peso wert war, konnte es gelingen. Nicht dass sie auf Mexiko fixiert war, Belize stand auch zur Debatte oder Costa Rica.
Bei all den vielen Vorbereitungen, die sie treffen musste, hatte sie nicht auf das Datum geachtet. Es war so viel zu erledigen gewesen: die Traveler-Schecks, der Untermietvertrag ihres Apartments, der Verkauf ihres Autos (das alleine hätte ihren Kollegen als Hinweis genügen sollen, dass sie nicht vorhatte, wieder zurückzukommen. Wer konnte schon ohne Auto in Texas leben?). Erst vor drei Wochen, als sie endlich den Flug gebucht hatte, fiel ihr Blick auf das Datum des Abflugs im Terminkalender – der 16. März. Sie beschloss, es als gutes Omen zu nehmen, dass sie noch vor dem 29. März das Land verließ.
Als der Bus sich einen Berghang hinaufwand, sprangen Miriam die kleinen weißen Kreuze am Straßenrand ins Auge. Wenn man mal darüber nachdachte, stürzten Busse in Mexiko nicht immer in die Tiefe? So was kam doch ständig in den Nachrichten. Busunglücke, Erdrutsche, Taifune und Erdbeben. Auf
der Fahrt im Taxi hatte sie
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