Was die Toten wissen
löschen können? Infantes Ansicht nach konnte rein gar nichts ausgeschlossen werden. Im Endeffekt fand man die Namen immer in den Akten; das hatte ihm Nancy über alte ungeklärte Fälle erzählt.
»Wir haben dieser Heather bereits gesagt, dass wir keine Knochen gefunden haben«, warf Lenhardt ein.
»Wir haben ihr gesagt, dass wir sie nicht an der Stelle gefunden haben, die sie uns genannt hat. Aber ich komme gerade aus Georgia zurück, wo Tony Dunham gewohnt hat. Der Sohn könnte die Überreste von Sunny auch ausgegraben und mitgenommen haben, bevor der Vater das Grundstück verkauft hat, um deren Entdeckung zu verhindern. Das weiß sie letztlich nicht.«
»Das wäre wirklich ein Ding«, bemerkte Lenhardt. »Ich kriege meinen Sohn noch nicht mal dazu, den Rasen zu mähen.«
»Jetzt mal im Ernst …«
»Nein, nein, ich verstehe dich schon, ich stelle es mir nur gerade vor. Also wir erzählen ihr, wir hätten die Überreste ihrer Schwester ausgegraben. Falls sie gelogen hat, ist sie gezwungen aufzugeben, weil sie weiß, dass sie Tests machen müsste, die beweisen würden, dass sie nicht verwandt sind. Aber die hier ist nicht auf den Kopf gefallen. Was wäre, wenn sie darauf sagt: ›Es könnte ja ebenso gut die Leiche von jemand anderem sein? Wer weiß, wen Stan Dunham noch alles umgebracht hat?‹«<
»Trotzdem ist es den Versuch wert. Wir sollten alles daransetzen, um schnell etwas aus dieser Frau rauszukriegen.
Schließlich können wir der Mutter eigentlich nicht zumuten, sie zu treffen, solange es so viele ungeklärte Dinge gibt. Wenn wir sie dazu kriegen, dass sie gesteht …«
»Also, vor dem Frühstück werden wir sowieso keine Lösung mehr finden«, meinte Lenhardt und richtete den Blick auf Willoughby. »Wir müssen der Mutter erklären, wie sehr das alles in der Schwebe ist. Sie hätte nicht kommen dürfen, aber als Vater hätte ich auch wissen müssen, dass sie nichts davon hätte abhalten können, nachdem wir sie angerufen hatten.«
Normalerweise hasste es Infante, wenn Lenhardt seine Erfahrungen als Vater hervorkehrte, ganz besonders jetzt, wo ihm Nancy seit Neuestem feierlich beipflichten konnte. Aber in diesem Fall versuchte Lenhardt, Willoughbys Schuldgefühle zu lindern, deshalb machte es Infante nicht ganz so viel aus.
Nancy schaltete sich ein. »Meine Meinung ist: Sie würde irgendwie bei allem, was wir ihr erzählen, mithalten können. Habt ihr mal diese Fernsehshow gesehen, die mit dem fetten Kerl mit der Brille, der immer improvisiert?«
Die drei Männer sahen sie völlig perplex an. Lenhardt und Willoughby waren komplett verwirrt, während Infante Nancys Faible für seichte Unterhaltung nichts Neues war. »Diesen Mist? Den würde ich nicht für Geld gucken. Obwohl es mir gut gefallen hat, wie dieser Schwarze, dieser supernette Typ, sich bei dieser anderen Show selbst verarscht hast . Hat Wayne Brady es nötig, eine Nutte zu würgen? Das war richtig witzig.«
Nancy errötete: »Hey, hab du erst mal ein Baby, das dich mitten in der Nacht aus dem Bett holt, dann werden wir schon sehen, was du dann guckst. Ich erwähne das auch nur, weil sie mich daran erinnert. Sie ist reaktionsschnell und schlagfertig, und sie kapiert das, was viele Lügner nicht kapieren, dass es in Ordnung ist, Fehler zu machen, weil die Leute tatsächlich immer mal wieder was Falsches erzählen. Wie das mit den Grillen? Es hat sie überhaupt nicht irritiert, als ich sie darauf hinwies, dass es März war. Sie wusste, dass ich sie in diesem
Augenblick beim Lügen ertappt habe. Aber sie fuhr fort. Der Sergeant hat recht. Bei der Geschichte mit dem Skelett würde sie wahrscheinlich noch nicht mal mit der Wimper zucken.«
Die Lifttür öffnete sich. Miriam Toles trat heraus, und nach einem kurzen Blick in die Empfangshalle erkannte sie Infante. Als Infante sie gestern Nacht am Flughafen abgeholt hatte, rechnete er mit jemandem, der sich mehr mexikanisch kleidete. Nicht gerade mit Sombrero, so naiv war er nun auch wieder nicht, aber vielleicht mit einem bunten Bahnenrock oder einer bestickten Bluse. Er hatte außerdem erwartet, dass sie älter aussehen würde, als sie wirklich war, den Unterlagen zufolge achtundsechzig. Aber Miriam Toles hatte einen Stil, den er von den Frauen in New York her kannte, von seinen Ausflügen in die Stadt als Kind – silbergraues Haar im strengen, kurzen Bob, große Silberohrringe, kein weiterer Schmuck. Er bemerkte, wie Nancy an sich herunterblickte, auf eine rosa Bluse mit einem
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