Was die Toten wissen
weiterhin den Kopf darüber zerbrechen. Das verspreche ich Ihnen. Ich werde für Sie da sein. Nicht nur heute, nicht nur an diesem Tag. An jedem Tag für den Rest meines Lebens. Selbst wenn ich mich endgültig zur Ruhe setze, wird es in der Nähe sein. Ich werde nicht nach Florida oder Arizona ziehen. Ich bleibe hier.«
Die Worte des Kriminalers hatten ihn beschwichtigt, zumindest oberflächlich. Aber Dave hatte schon den ganzen Morgen Streit gesucht, und diese Laune verflog nicht so einfach. Der Steinberg-Fall hatte ihn vor anderthalb Jahren die Wände hochgehen lassen, und die Urteilsverkündung letzte Woche hatte wieder alte Wunden aufgerissen. Jede Geschichte über Kindesmisshandlung oder Vernachlässigung durch die Eltern brachte Dave an den Rand des Wahnsinns. Lisa Steinberg war umgebracht worden, nur zwei Wochen, nachdem die kleine Jessica in Texas in einen Brunnen gefallen
war – und darüber war Dave bereits aufgebracht gewesen. Wo waren die Eltern gewesen? Sein Schicksal, so seltsam es sich anhören mochte, hatte ihn eher weniger verständnisvoll werden lassen. Er nahm die anderen auseinander, wie sie es mit ihm getan hatten. Adam Walsh, Etan Patz, diese ganze traurige Riege schmerzlicher Verluste – er wollte nichts damit zu tun haben.
Das Windspiel erklang, als er den Laden betrat. Er hieß jetzt nur noch kurz DBG – oder wie es auf dem Schild minimalistisch und in Kleinbuchstaben stand: dbg. Als er beschloss, es zu ändern, hatte er überlegt, den ganzen Namen abzukürzen: dmmdbg, aber selbst ihm war aufgefallen, dass das ein echt harter Brocken war. Der Textilbereich des Ladens nahm jetzt ebenso viel Platz ein wie die Volkskunst. Es war genau die Art von Laden daraus geworden, von der Miriam immer geredet hatte – sehr viel kundenfreundlicher. Ein voller Erfolg. Es war ihm zuwider.
»He, Boss«, begrüßte ihn Pepper, seine Mitarbeiterin. Sie war eine quirlige junge Frau mit dreizehn Kreolen in ihrem linken Ohrläppchen und dunklen Haaren, die im Nacken ausrasiert waren und vorn so lang, dass sie ihr in die Augen hingen. Sie reinigte gerade die Glasvitrinen. Pepper hätte den Besitzerstolz nicht noch mehr herauskehren können, wenn es ihr eigener Laden gewesen wäre, und Dave war es bisher noch nicht gelungen, herauszufinden, was der Grund dafür war.
Sie hatte eine Begabung für Ausweichmanöver, eine bestimmte Art, nichts von sich preisgeben zu wollen. Dave war genauso, aber bei sich selbst wusste er, woher es kam. Pepper hatte vermutlich etwas Schreckliches erlebt, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass dieser sonnigen, vor Energie sprühenden jungen Frau jemals etwas Tragisches zugestoßen war. Er hatte daran gedacht, Willoughby damit zu beauftragen, mehr über
sie herauszufinden, unter dem Vorwand, sie habe sich bei ihm vorgestellt, weil sie etwas wusste, das mit dem Verschwinden seiner Mädchen zusammenhing. Aber er hatte bisher noch nie seine Töchter für so etwas missbraucht, und er wollte gar nicht erst damit anfangen.
Pepper war außerdem hübsch. Sie fiel den Männern, die von ihren Frauen oder Freundinnen mit in den Laden geschleppt wurden, sofort auf. Aber Dave nahm das alles nur abstrakt wahr. Immer wenn er eine Frau traf, rechnete er sich den Altersunterschied zu seinen Töchtern aus, und wenn sie nicht mindestens fünfzehn Jahre älter als Heather oder Sunny war, wollte er nichts mit ihr zu tun haben. Sunny wäre dieses Jahr neunundzwanzig geworden, dachte er mit einem Stich. Deshalb würde er keine Frau unter fünfundvierzig in Betracht ziehen. Was für die Frauen in Baltimore mittleren Alters eigentlich gute Neuigkeiten hätten sein können – ein erfolgreicher, freier Mann, der nie nach jüngeren Frauen Ausschau halten würde -, nur dass Daves Beziehungen nie funktionierten. Wenn man die Vergangenheit als Gepäck ansah, das man hinter sich herzog, dann war Daves Vergangenheit viel sperriger, viel schwerer als ein einzelnes Gepäckstück. Seine Vergangenheit war, als würde er auf einem Monster reiten, das mit seinem Schwanz ausschlug. Er klammerte sich widerwillig daran fest, weil er wusste, dass er von dem Untier zertrampelt werden würde, sobald er den Halt verlor.
Es war ein ruhiger Morgen. Er nutzte die Gelegenheit, die Geschäftsbücher mit Pepper durchzugehen, und gewährte ihr dabei einen tieferen Einblick in die Zahlen, als er es je zuvor einem seiner Angestellten gestattet hatte. Er erinnerte sie an die Frühjahrshandwerksmesse, fragte sie, ob sie ihn gern
Weitere Kostenlose Bücher