Was die Toten wissen
könnte. Außerdem ist er nicht mehr zurechnungsfähig, und damit ein extrem praktisches Ziel.«
»Dunham«, sagte Miriam. »Dunham. Stan, sagten Sie?«
»Ja, und der Sohn hieß Tony. Sagt Ihnen das irgendwas?«
»Bei Dunham klingelt’s bei mir. Wir kannten mit Sicherheit jemanden, der Dunham hieß.«
»Niemanden, von dem Sie mir jemals was erzählt haben«, verteidigte sich Chet. Sie legte die Hand auf seinen Arm, um ihn zu beschwichtigen, aber auch um ihn vom Weiterreden abzuhalten, damit sie ihren Gedankengang verfolgen konnte.
»Dunham. Dunham. Abgemahnt von Dunham«. Miriam sah sich an dem alten, wackligen Küchentisch im Haus in der Algonquin Lane sitzen. Bop-Bop hatte ihnen den Tisch untergejubelt, wie Miriam es nannte, als sie aus Baltimore wegzog, noch mehr Kram für das Haus mit zu viel Kram. Es hatte Tage gegeben, an denen es ihr so vorgekommen war, als könne sie nicht durchs Zimmer gehen, ohne an einen Tisch oder eine Fußbank oder sonst etwas zu stoßen, was Dave angeschleppt hatte. Dave hatte den Tisch knallgelb angestrichen und die Mädchen Blumenabziehbilder daraufkleben lassen, was ganze zwei Wochen lang gut ausgesehen hatte, bis die Folie anfing, sich zu lösen, klebrige Reste hinterließ und die Lackfarbe abblätterte. Das Grün des Scheckbuchs bildete einen fürchterlichen Kontrast dazu. Oder vielleicht war es ihr nur so vorgekommen, weil sie sich Sorgen machte, wie es mit ihnen weitergehen würde. Mit jeder Rechnung, die sie bezahlte, rutschten sie ein Stück weiter in die Miesen, und es war längst zu einer Art Spiel für sie geworden,
auszuknobeln, wen man dringend besänftigen musste und wen man vielleicht noch etwas länger hinhalten konnte. Sie hatten sich immer wieder über die laufenden Kosten gestritten, aber nie auf etwas einigen können, was entbehrlich war. »Ghee kostet so gut wie nichts«, sagte Dave jedes Mal, wenn Miriam andeutete, dass sie sich die Rituale des Fünffachen Pfads nicht mehr leisten konnten. »Warum kannst du die Mädchen nicht zur Schule bringen und abholen?« Darauf entgegnete sie: »Ich habe jetzt einen Job, einen Job, den wir bitter nötig haben. Ich kann nicht einfach alles hinschmeißen, um Sunny in die Schule zu fahren und wieder abzuholen.«
Du könntest die Morgentour übernehmen … Aber wer würde sie dann abholen?... Wir werden eh beschissen, weil Sunny nachmittags als Letzte abgesetzt wird … Wir müssen irgendwo Einschnitte machen.
Jeden Monat führten sie diese Auseinandersetzung von neuem, und Miriam hatte sich immer wieder durchgesetzt und den Scheck für das Mercer-Transportunternehmen in Glen Rock, Pennsylvania, ausgestellt. Sie wusste noch nicht mal, wo Glen Rock lag, aber wenn die Schecks zurückkamen, waren sie auf der Rückseite eingelöst worden von …
»Stan Dunham betrieb ein privates Busunternehmen, Mercer hieß es. Sunny fuhr damit zur Schule.«
»Mercer hieß auch die Firma, die das Grundstück an die Baufirma verkauft hat«, japste die junge Frau. »Ich dachte, Dunham hätte es vorher an Mercer verkauft, aber anscheinend hat er es nur auf seine eigene Firma überschreiben lassen. Mist, wie konnte ich das nur übersehen.«
»Aber wir haben den Fahrer überprüft«, warf Chet ein. »Er war einer der Ersten, die wir uns vorgenommen hatten, und er hatte ein hieb- und stichfestes Alibi. Der Fahrer hieß aber nicht Stan. Sie haben mir nie etwas von einem Stan erzählt .«
Miriam verstand seine Frustration, weil sie sie ebenso spürte. Niemand war verschont geblieben bei der Suche nach den
Mädchen, keiner wurde von vornherein als unschuldig ausgeschlossen. Sie hatten ihr Leben auf den Kopf gestellt und nach Namen und Verbindungen gestöbert. Verwandte, Nachbarn, Lehrer wurden in Betracht gezogen, manchmal ohne dass sie etwas davon wussten. Die Angestellten der Security Square Mall mussten sich einem peinlichen Verhör unterziehen, als ob Verkehr mit einer Prostituierten unwillkürlich zur Entführung zweier Minderjähriger führte. Ihre Kollegen, Daves Geschäftspartner. Sie hatten sogar den Mann, der an diesem Tag den 15er Bus fuhr, aufgespürt. Miriam hatte ihn immer als den Mann betrachtet, der ihre Töchter zur Stätte ihres Todes chauffiert hatte, genauso wie Charon, der Fährmann der Unterwelt, die Toten über den Styx setzte. Die Verdächtigungen kannten keine Grenzen, doch Zeit und Energie waren begrenzt. Daves panische Angst war, dass doch noch nicht alles Menschenmögliche getan worden war, dass es immer noch etwas
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