Was die Toten wissen
beweisen, wer diese Frau ist. Was, wenn sie einfach eine Identität nach der anderen annimmt? Ruth Leibig ist schließlich tot. Diese Frau ist die verdammte Königin der Toten.«
Sie fuhren von der Autobahn ab, Richtung Norden. Die Vororte hatten sich in den letzten zehn Jahren, seit Infante in Baltimore war, immer weiter ausgedehnt, aber hier in Sykesville war es noch relativ ländlich. Das Pflegeheim selbst war jedoch ein schicker, moderner Bau – noch gepflegter als die Anlage, in der Willoughby wohnte. Wie konnte ein Polizist ohne großes Vermögen sich so eine Unterbringung leisten? Dann fiel Infante der Verkauf des Grundstücks wieder ein, Dunhams Altersvorsorge. Der Mann plante voraus, daran bestand kein Zweifel. Die einzige Frage war, ob er seine Verbrechen genauso sorgfältig geplant hatte wie seine finanziellen Rücklagen fürs Alter.
Willoughby zitterte ein wenig, als man ihnen den Weg zum Hospizbereich wies, wo Stan Dunham lag. Darauf reagierte Infante erst einmal mit Erstaunen, aber dann fiel ihm wieder ein, dass Willoughbys Frau an einem solchen Ort gestorben war.
»Mr. Dunham kann inzwischen praktisch nicht mehr sprechen«, sagte die hübsche Schwesternhelferin. Krankenschwestern – er sollte sich öfter mit Krankenschwestern verabreden. Sie passten gut zu einem Polizisten. Er wünschte sich, sie würden noch die weiße Uniform tragen, mit der betonten Taille und dem Flügelhäubchen. Diese hier trug mintgrüne Hosen, ein geblümtes Oberteil und absolut hässliche grüne Clogs, aber auch darin sah sie noch umwerfend aus. »Er gibt hin und wieder Geräusche von sich, die darauf hindeuten, dass er noch etwas fühlt, aber mehr als seine Grundbedürfnisse kann er nicht mitteilen. Er befindet sich im Endstadium.«
»Ist er deshalb ins Hospiz verlegt worden?«, fragte Willoughby und geriet bei »Hospiz« etwas ins Stammeln.
»Wir verlegen die Leute erst ins Hospiz, wenn ihre Lebenserwartung unter einem halben Jahr liegt. Bei Mr. Dunham wurde vor drei Monaten Lungenkrebs diagnostiziert. Armer Kerl, er hatte nichts außer Unglück in seinem Leben.«
Ja , dachte Kevin, armer Kerl . »Er hatte einen Sohn, Tony. Hat er ihn jemals besucht?«
»Ich wusste gar nicht, dass sein Sohn lebt. Sein Anwalt ist unser einziger Kontakt. Vielleicht hatten sie sich auseinandergelebt. Das passiert ja manchmal.«
Vielleicht wollte der Sohn auch nichts mit seinem Vater zu tun haben. Vielleicht wusste der Sohn darüber Bescheid, was sich da vor Jahren abgespielt hat, und er hat es seiner Freundin Penelope erzählt, und sie hat es an jemanden weitererzählt, jemanden, der mit ihrem Auto fuhr .
Kevin wusste, dass jemand, der an fortgeschrittenem Alzheimer litt, keine sinnvollen Aussagen machen konnte, aber er war dennoch enttäuscht, als er Stan Dunham sah. Dies war nur noch die leere Hülle eines Mannes aus kariertem Schlafanzug und Bademantel. Die einzigen Anzeichen von Leben waren die gekämmten Haare, die frische Rasur. War das das Werk der Krankenschwester? Auf jeden Fall leuchteten Dunhams Augen bei ihrem Anblick, streiften Kevin und Willoughby leicht interessiert und kehrten dann wieder zu der Schwester zurück.
»Hi, Mr. Dunham«, Terrie hörte sich fröhlich und zuversichtlich an, tat nicht so, als würde sie mit einem schwerhörigen Kleinkind reden. »Sie haben zwei Besucher. Kollegen von früher.«
Dunham sah sie weiter an.
»Mit mir hatten Sie nicht direkt zu tun gehabt«, sagte Infante und versuchte es mit Terries Tonfall, was ihn wie einen gut gelaunten Autohändler klingen ließ. »Aber mit Chet hier. Er war bei der Mordkommission. Erinnern Sie sich? Er hat den Bethany-Fall bearbeitet. Den Bethany-Fall.«
Er wiederholte die letzten Worte langsam und deutlich, aber nichts kam an. Natürlich nicht. Das wusste er ja bereits, trotzdem konnte er einfach nicht anders. Dunham starrte Terrie unverwandt an. Sein Blick erinnerte an einen Hund, hingebungsvoll und äußerst anhänglich. Wenn der Mann der Entführer der Bethany-Mädchen war, dann war er ein Monster. Aber selbst Monster alterten, wurden schwächlich. Selbst Monster starben.
Infante und Willoughby fingen an, systematisch Schubladen und Schränke zu öffnen und darin herumzustöbern.
»Er hat nicht viel«, sagte Terrie. »Das können Sie sein lassen …« Ihre Stimme verlor sich, als ob der Mann in dem Stuhl, der Mann, der sie nicht aus den Augen ließ und ihrer Stimme mit absoluter Entschlossenheit folgte, sich darüber wundern könnte,
Weitere Kostenlose Bücher