Was die Toten wissen
dass er bald sterben würde. »Aber es gibt ein Fotoalbum, das wir uns manchmal zusammen anschauen. Stimmt’s, Mr. Dunham?«
Sie langte unter das Sofa und holte ein großes Stoffalbum hervor. Das Seidenweiß war längst vergilbt. Vom Einband krähte ein Baby in blauen Windeln: »Es ist ein Junge!« Als Infante das Buch aufschlug, erkannte er eindeutig die Schrift einer Frau, eine geschwungene Schreibschrift, die das Leben von Anthony Julius Dunham dokumentierte, von der Geburt (dreitausendeinhundertsiebzig Gramm) über die Taufe bis hin zu seinem Highschool-Abschluss. Seine Mutter war eine von denen, die geduldig jede einzelne Errungenschaft ihres Sohnes festgehalten hatten. Eine Urkunde über einen Leseworkshop in den Sommerferien, ein Schwimmabzeichen vom Camp Apache. Zeugnisse, nicht sehr eindrucksvolle, die mit kleinen schwarzen Fotoecken auf die Seiten geklebt waren.
Die Fotos lösten bei Infante Sehnsucht nach seinem eigenen Dad aus. Nicht etwa, weil Infantes Dad und der jüngere, kräftigere Stan Dunham sich ähnlich gesehen hätten,
sondern weil die Fotos diese gewöhnlichen Augenblicke des Familienlebens einfingen, die jeder kannte: Herumalbern zu Hause, Sehenswürdigkeiten im Urlaub, Gegenlichtaufnahmen von irgendwelchen Feierlichkeiten. Alles war in derselben weiblichen Handschrift mit Anmerkungen versehen. »Stan, Tony und ich, Ocean City, 1962«. »Tony beim Schulpicknick, 1965«. »Tonys Highschool-Abschluss, 1970«. In nur neun Jahren war der Sohn vom kurz geschorenen Flachskopf im Ringelhemd zum angehenden Hippie mit langen Haaren herangewachsen. Hart für einen Polizisten, vor allem zu dieser Zeit, aber ganz gleich, wie Tony aussah, die Eltern platzten fast vor Stolz.
Unter dem letzten Foto von Tony in einem Kleidungsstück, das aussah wie die Uniform eines Tankwarts, stand »Tonys neuer Job, 1973«. Damit hörte das Album auf, zwei Jahre, bevor die Mädchen verschwunden waren, auch wenn danach noch ein paar Seiten frei waren. Warum hatte die Frau aufgehört, den weiteren Lebensabschnitt ihres Sohnes zu dokumentieren? War er 1973 ausgezogen? War er da, als sein Vater 1975 ein Mädchen mit nach Hause brachte? Was hatte Stan Dunham ihnen erzählt, wie hatte er das plötzliche Auftauchen eines kleinen Mädchens erklärt?
»Kevin, sehen Sie mal.«
Willoughby hatte Kissen beiseitegeschoben, die, absichtlich oder nicht, einen großen Pappkarton im oberen Fach des Kleiderschranks verdeckt hatten. Terrie zeigte sich behilflich und taumelte ein wenig unter dem Gewicht der Kiste, sodass Infante ihr zur Hilfe eilen musste und ihr dabei stützend seine Hand auf die Schulter legte. Sie betrachtete ihn amüsiert, als ob sie an diese Masche gewöhnt war, wodurch er sich alt und kauzig vorkam, ein weiterer Pflegefall, der sie ein bisschen begrapschen wollte.
Die Kiste war voll mit Kram, wie ihn Schüler sammelten. Zeugnisse mit Noten, die wesentlich besser waren, als die von
Tony, Stundenpläne, Schülerzeitschriften. Alle von der Sisters-of-the-Little-Flower-Schule, wie Infante bemerkte – und darauf der Name von Ruth Leibig. Wer immer sie auch sein mochte, für Ruth gab es kein Fotoalbum, auch keine losen Fotos, eigentlich nichts, was vor dem Herbst 1975 datiert war, nur ein Abschlusszeugnis von 1979. Das Merkwürdigste war ein altmodischer Kassettenrekorder, ein leuchtend roter Kasten in Form einer Handtasche. Er drückte einen Knopf, aber natürlich passierte nichts. Die Kassette war Aqualung von Jethro Tull. Unten auf dem Rekorder war ein Namensschild, auf dem Ruth Leibig stand.
Infante grub tiefer in der Kiste und fand etwas noch Seltsameres: eine Heiratsurkunde, ebenfalls von 1979. Zwischen Ruth Leibig und Tony Dunham, bezeugt von seinen Eltern Irene und Stan Dunham.
Tony ist tot? Das war das Einzige gewesen, was die Frau laut Nancy und Lenhardt während der Befragung überrascht, aber nicht unbedingt traurig gemacht hatte. Sie hatte eher schockiert und durcheinander reagiert, verärgert sogar. Aber kein bisschen traurig. Zugleich hatte sie Tony nie erwähnt gehabt, nicht mit Namen.
»Was ist passiert?«, herrschte Infante Stan Dunham an, der vor seiner lauten Stimme zurückschrak. »Wer war Ruth Leibig? Haben Sie ein junges Mädchen entführt, ihre Schwester umgebracht und dann die Kleine gevögelt, bis ins Teenageralter? Da haben Sie sie dann an Ihren Sohn weitergegeben. Was ist auf der Farm gelaufen, Sie kranker alter Wichser?«
Die Schwester war entsetzt. Würde er sie in einer Woche anrufen,
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