Was die Toten wissen
immer noch glatt und straff. Nur eine Delle zwischen ihren Augen verriet ihre ernste Konzentration.
»Seit wann gibt es denn keine Prince-Valiant-Comics mehr in der Sonntagszeitung?«, fragte Heather kurze Zeit später, als Kay ihr eine Tasse Kaffee brachte. Dann, noch bevor Kay antworten konnte, nicht dass ihr dazu etwas eingefallen wäre, bekannte Heather von selbst: »Nein, Prince Valiant war gar nicht im Beacon . Es war der Star . Den Beacon hatten wir unter der Woche, aber am Sonntag gab es beide Zeitungen. Mein Dad musste immer über alles informiert sein.«
»Ich habe schon seit Jahren niemanden mehr von dem Beacon reden hören. Er hat, bereits in den Achtzigern, mit dem Light fusioniert, etwa zu der Zeit, als der Star einging. Aber weil Baltimore Baltimore ist, gibt es immer noch Leute hier, die über den Beacon reden, als gäbe es ihn noch. Sie haben sich gerade angehört wie ein echtes Stadtgewächs.«
»Ich bin ein echtes Stadtgewächs«, entgegnete Heather. »Oder war es zumindest. Ich schätze, inzwischen gehöre ich woanders hin.«
»Sind Sie hier geboren?«
»Was? Das ist bei keiner Ihrer Google-Suchen aufgetaucht? Fragen Sie für sich oder für die?«
Kay errötete. »Das ist nicht fair, Heather. Ich habe für niemanden Partei ergriffen. Ich bin neutral.«
»Mein Vater sagte immer, es gibt keine Neutralität, dass selbst die bloße Tatsache, neutral sein zu wollen, voraussetzt, dass man Partei ergreift.« Sie forderte Kay heraus, warf ihr etwas vor, aber was?
»Ich habe niemandem davon erzählt, dass wir gestern in der Mall waren.«
»Warum sollten Sie auch?«
»Nun, ich habe es nicht getan, aber … es hätte wahrscheinlich interessant sein können. Ich meine, wenn die wüssten …« Kay war dankbar, als das Telefon klingelte und ihr Stammeln unterbrach, obwohl ihr nicht ganz klar war, warum sie eigentlich nervös und verlegen war. Von oben hörte man Grace mit der üblichen Aufregung in der Stimme, die jedes Telefonklingeln bei ihr verursachte. »Ich geh ran!« Dann mit einem um die Hoffnung gebrachten, dünnen Stimmchen: »Eine Nancy Porter, die Heather sprechen will.«
Heather ging in die Küche und zog betont die Schwingtür hinter sich zu. Kay hörte dennoch ihre kurzen, gereizten Antworten. Was? Warum so eilig? Kann das nicht bis morgen warten?
»Sie wollen, dass ich noch einmal vorbeikomme«, sagte Heather und warf sich mit so viel Schwung gegen die Tür, dass sie offen stehen blieb. »Könnten Sie mich in ungefähr einer halben Stunde noch einmal hinbringen?«
»Noch mehr Fragen?«
»Ich bin nicht sicher. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass sie noch mehr Fragen haben, nach allem, was ich gestern bereits über mich habe ergehen lassen müssen. Aber meine Mutter ist hier, und sie wollen, dass ich sie treffe. Nettes Wiedersehen, was? In der Verhörzelle der Polizei, wo jedes Wort
aufgenommen und mitgehört werden kann. Ich wette, sie haben den Morgen damit zugebracht, ihr einzutrichtern, dass ich eine Lügnerin bin, und sie gebeten zu beweisen, dass ich nicht die bin, für die ich mich ausgebe.«
»Ihre Mutter wird Sie erkennen«, sagte Kay, aber Heather schien ihren Zuspruch gar nicht zu bemerken. Kay glaubte ihr. In der Tat kam es ihr so vor, als ob Heather immer dann besonders überzeugend erschien, wenn sie gar nicht versuchte zu beweisen, wie glaubwürdig sie war. Wenn sie über die Comics in der Sonntagszeitung redete und über Dinge, die ihr Vater immer sagte, war sie mühelos sie selbst.
»Also, ich geh mir nur eben in meinem Zimmer die Zähne putzen und die Haare bürsten, und dann können wir los, okay? Ich bin gleich wieder da.«
Sie ging über den schmalen, mit Steinplatten ausgelegten Weg, der hinten zur Garage führte. Wie dumm von ihr, das mit der Google-Suche zu erwähnen. Was, wenn sie auf Kays Computer ihren Spuren folgten? Jeder halbwegs fähige Computerspezialist konnte die Website ihrer Firma finden und die E-Mail, die sie an ihre Vorgesetzte geschickt hatte. Beobachtete Kay sie? Musste sie wirklich nach oben? Da war schließlich nichts, was sie brauchte. Die Polizei hatte ihr den Schüsselbund abgenommen, an dem Abend, als sie sie angehalten hatten. Wie dankbar sie gewesen war, dass selbst ihr Schlüsselanhänger sie nicht verraten konnte. Es war einfach ein kleiner Türkisstein an einem silbernen Ring. Sie hatte den Anhänger in einem dieser Billigläden mitgenommen, ein Gegenstand ohne Bedeutung. Aus ersichtlichen Gründen hatte sie das, was sie
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