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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lippman
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Mall.«
    Heather war begeistert. Das Geld für den Bus. Das waren noch mal fünfunddreißig Cent, mit denen sie machen konnte, was sie wollte. Nicht dass man mit fünfunddreißig Cent viel kaufen konnte, aber es waren fünfunddreißig Cent, die ihr gehörten und die sie nicht ausgeben musste und deshalb sparen konnte. Heather war gut im Sparen. »Horten« nannte es ihr Vater und fand das gar nicht so gut, doch Heather war das egal. Sie hatte neununddreißig Dollar in einer Blechschachtel, die sie mit Gummis in einem komplizierten System umwickelt hatte, sodass sie es sofort merkte, wenn sich jemand daran zu schaffen machte. Sie würde das Geld gar nicht erst mit zur Mall nehmen, denn dann käme sie auch nicht in Versuchung, es auszugeben. Nein, sie würde die Preise vergleichen und die Sonderangebote unter die Lupe nehmen und dann noch einmal mit ihrem Geburtstagsgeld wiederkommen, wenn sie sich genau überlegt hatte, was sie wollte. Sie würde ihr Geld nicht einfach so zum Fenster rauswerfen, wie Sunny das öfter machte. Im letzten Sommer hatte Sunny einen Rippenstrickpullover in Naturweiß mit roter Blende gekauft. Der rote Rand war beim ersten Waschen ausgelaufen und hatte zwei parallele Streifen auf dem Rücken hinterlassen. Aber es war ein Sonderangebot gewesen, das man nicht mehr umtauschen konnte, und Sunny wäre elf Dollar los gewesen, wäre ihre Mutter nicht in das Geschäft gegangen und hätte sich bei der Verkäuferin beschwert, womit sie Sunny so sehr in Verlegenheit brachte, dass sie noch nicht mal Danke sagte.
    Ihr Vater stellte das Geschirr auf dem Ablaufbrett ab und ging pfeifend aus der Küche. Er war umgänglich gewesen heute Morgen, viel lockerer als sonst, er hatte Pfannkuchen gebacken
und sogar ein paar Schokostreusel hineingegeben, richtige, nicht die aus Johannisbrot, das er sonst immer beim Backen verwendete. Heather hatte den Radiosender auswählen dürfen, und obwohl sich Sunny darüber lustig machte, wusste Heather, dass es derselbe Sender war, den Sunny spätnachts in ihrem Zimmer hörte. Heather wusste eine Menge von Sunny und was in ihrem Zimmer vor sich ging. Sie betrachtete es als ihre Aufgabe, ihrer älteren Schwester hinterherzuspionieren, ein weiterer Grund, weshalb sie die Stunde alleine unter der Woche so schätzte. Dabei hatte sie gestern den Busfahrplan in Sunnys Schreibtischschublade entdeckt, auf dem die Abfahrtszeiten des 15ers am Samstag sorgfältig mit einem Leuchtstift markiert waren.
    Heather hatte nach dem Tagebuch ihrer Schwester gesucht, ein kleines Büchlein aus marokkanischem Leder mit einem echten Schloss. Aber wenn man daran herumrüttelte, kriegte man es auch ohne Schlüssel auf. Vor über einem Jahr hatte sie angefangen, heimlich in Sunnys Tagebuch zu lesen, und was darin stand, war enttäuschend langweilig gewesen. Sie hatte fast Mitleid mit ihrer Schwester bekommen. Heathers eigenes Leben war viel interessanter. Vielleicht ließ es sich so erklären: Leute, deren Leben interessant war, hatten gar nicht die Zeit, Tagebuch zu schreiben. Aber dann hatte Sunny sie reingelegt, und Heather war glatt in die Falle gegangen. Es ging um einen Vorfall im Bus, von dem Heather gar nichts wissen konnte, es sei denn, sie hatte Sunnys Tagebuch gelesen. Heather hatte deshalb ziemlichen Ärger gekriegt, auch wenn sie nicht verstanden hatte, warum. Wenn man doch in der Familie alles teilen sollte, warum durfte Sunny dann ihre Gedanken vor ihr verschließen?
    »Heather bewundert ihre große Schwester nun mal«, sagte ihre Mutter zu Sunny. »Sie will sein wie du, das machen, was du machst. So wachsen jüngere Schwestern eben auf.«
    Falsch , hätte Heather am liebsten eingewandt. Sunny
war die Letzte, die sie sich zum Vorbild nehmen wollte. Die ging zur Highschool und hatte immer noch keinen Freund, während Heather quasi liiert war. Jamie Altman saß auf Schulausflügen neben ihr und kam zu ihr hin, wenn sie Junge-Mädchen-Paare bilden sollten. Er hatte ihr außerdem eine Schachtel Whitmans-Pralinen zum Valentinstag geschenkt. Es war zwar nur die kleine mit vier Stück, keine mit Nüssen, aber Heather war die Einzige in der sechsten Klasse, die von einem männlichen Wesen, das nicht ihr Vater war, Schokolade bekommen hatte, deshalb fand sie ringsum große Beachtung. Heather brauchte keine Sunny, die ihr zeigte, wo es langging.
    Sie las unter Vermischtes ihr Horoskop. In nur fünf Tagen würde da ein Horoskop nur für sie allein stehen. Na ja, für sie und alle anderen, die am 3.

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