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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lippman
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werden. Die Mädchen würden nicht lebend aufgefunden werden. Die Mädchen würden nicht … unversehrt aufgefunden werden, die Allzweck-Umschreibung, die für Miriam alles beinhalten konnte, von Vergewaltigung bis zu Verstümmelung. Aber es dauerte sehr lange, bis irgendwer den Gedanken aussprach, dass man die Mädchen vielleicht gar nicht finden würde.
    Miriam hatte darauf gewartet, dass die Mädchen aufgefunden würden, wie ihr bewusst wurde, nicht nur weil sie verzweifelt wissen wollte, was passiert war, sondern auch, weil sie vorhatte, Dave zu verlassen, sobald das abgeschlossen war. Das Unglück ihrer Töchter – die Schuld daran, die Belastung – war ebenso Bestandteil ihrer Ehe wie das Haus, die Möbel, der Laden. Sie musste die gesamte Geschichte kennen, damit sie sie fifty-fifty, offen und ehrlich, zwischen sich aufteilen konnten. Was aber, wenn es kein Ende gab? Musste sie dann bei Dave bleiben? Selbst wenn sie Schuld am Tod ihrer Töchter tragen sollte – und noch in ihren verzweifelten Augenblicken wollte Miriam nicht glauben, dass irgendein Gott irgendeiner Glaubensrichtung zwei Kinder töten würde, um eine Mutter,
die fremdgeht, zu bestrafen, und falls es tatsächlich solch einen Gott geben sollte, wollte sie nichts mit ihm oder ihr zu tun haben -, selbst wenn sie sich also etwas hatte zuschulden kommen lassen, musste sie dann deshalb auch eine lebenslange Strafe in dieser Ehe absitzen? Es war vorher schon schrecklich genug und nur durch die gemeinsame Freude an den Mädchen erträglicher gewesen. Wie lange musste sie noch bleiben? Was war sie Dave schuldig?
    Sie betrachtete ihr Spiegelbild im Fenster über der Spüle. Eine Frau braucht ein Fenster über der Spüle, hatte ihre Mutter immer gesagt. Geschirrspülen ist so langweilig, da braucht man einen Ausblick. Soviel sie wusste, war es das Einzige, was ihre Mutter je verlangt hatte. Sie hatte sich mit Sicherheit nie Gedanken darüber gemacht, dass es die Frau war, die das Geschirr spülte und das Essen kochte und das Haus putzte, und schon gar nicht darüber, dass sie außerhalb des Hauses einen Wirkungskreis suchen könnte. Die Frauen aus Miriams Generation fingen an, viel mehr einzufordern, aber ihre Mutter in Ottawa hatte nichts weiter verlangt als ein Fenster, und Miriam war ihrem Beispiel gefolgt. Hier sah sie bei Tag auf den großen überwucherten, fast schon wildwüchsigen Garten. Die Wildnis war eine sorgsam gehegte Illusion. Miriam hielt es mit dem Garten wie mit der Erziehung ihrer Kinder: Sie hatte ihn einfach so wachsen lassen und alles belassen, wie es war – Geißblatt, Minze, Feuerkolben -, nicht versucht, mit aller Gewalt etwas zu pflanzen, was nicht hingehörte, wie Rosen und Hortensien. Was sie hinzugefügt hatte, waren dazu passende, unauffällige immergrüne Pflanzen, die auch im Schatten gediehen.
    War die Sonne jedoch erst einmal untergegangen, sah man nur noch sein eigenes Spiegelbild im Fenster. Die Frau, die Miriam anblickte, sah erschöpft, aber dennoch attraktiv aus. Sie hätte kein Problem, einen anderen Mann zu finden. Tatsächlich hatte sie die Männer im letzten Jahr anscheinend noch
mehr angezogen als zuvor. Chet war ganz offensichtlich in sie verschossen, und nicht nur, weil sie »ein Fräulein in Nöten« war. Das Wissen um Miriams Affäre, das Geheimnis, das er weiterhin für sich behielt, erregte ihn. Sie war eine gefallene Frau. Und obwohl Willoughby Kriminalbeamter war, hatte er anscheinend nicht viel Erfahrung in dieser Richtung.
    Andere Männer, die keine Ahnung von dem hatten, was Willoughby wusste, wurden von Miriam durch die spürbare Aura der Verdammnis angezogen, von den müden Augen, die eindeutig vermittelten: Ich bin am Ende meiner Kräfte . Es war wirklich erschreckend, wie Männer auf angeschlagene Frauen reagierten. Ja, es wäre kein Problem für sie, einen anderen Mann zu finden, aber sie wollte gar keinen anderen Mann. Was sie brauchte, war die Gelegenheit, Dave zu verlassen, einen guten Grund, nach oben zu gehen, eine Tasche zu packen und davonzufahren, ohne dass man ihr vorwerfen konnte, eine eiskalte, gefühllose Frau zu sein, die ihren Mann verlassen hat, als er sie am meisten brauchte. Der Mann, der ihr so großzügig, so bereitwillig verziehen hatte. Sie würde noch ein halbes Jahr warten. Bis Oktober. Aber der letzte Herbst war für Dave besonders schlimm gewesen – das schöne Wetter, Halloween, die Nachbarskinder in Kostümen. Lieber im November, Dezember? Doch die Feiertage machten

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