Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lippman
Vom Netzwerk:
das Ganze noch schlimmer. Im Januar war Sunnys Geburtstag dran. Und dann kamen schon wieder März und der zweite Jahrestag und Heathers Geburtstag eine Woche danach. Es würde nie einen günstigen Zeitpunkt geben, um ihn zu verlassen, dachte Miriam. Es gab einfach nur einen Zeitpunkt. Bald.
    Sie stellte sich vor, auf dem Highway Richtung … Texas zu fahren. Sie kannte ein Mädchen aus dem College, das mittlerweile in Austin wohnte und ihr von dem freien und lockeren Lebensstil dort vorgeschwärmt hatte. Miriam sah sich im Auto sitzen, erst Richtung Westen und dann nach Süden fahren,
durch Virginia, das lange Shenandoah Valley entlang, an Ausflugsorten vorbei, wo sie mit den Mädchen gewesen waren – Luray Caverns, Skyline Drive, Monticello -, immer weiter bis tief in den Süden, bis nach Abingdon und Tennessee. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Ach richtig, Abingdon war der Ort, an dem die Mädchen angeblich gesichtet worden waren. Ein gut gemeinter Hinweis, allerdings störten Miriam diese wohlmeinenden, aber ahnungslosen Wichtigtuer noch mehr als die frei erfundenen Falschmeldungen.
    Was Miriam am meisten verachtete, von all den Dingen, über die sie sich berechtigterweise ärgerte, war, wie ihre persönliche Tragödie sich plötzlich in eine öffentliche verwandelt hatte, etwas von dem andere behaupteten, betroffen zu sein. Allein diese Reporter heute, die alle vorgaben, eine Ahnung davon zu haben, wie es ihr ging. Die Augenzeugen, die sich etwas vormachten, waren nur eine andere Spielart des gleichen Phänomens, Leute, die so taten, als seien die Bethany-Mädchen Allgemeingut; ein Schatz, der für eine einzige Familie viel zu großartig war, so wie etwa der Hope-Diamant im Smithsonian Museum in Washington. Wen wunderte es da noch, dass der Diamant angeblich verflucht war?
    Der Hope-Diamant erinnerte sie an den riesigen Brillanten, den Richard Burton Elizabeth Taylor schenkte. Miriam erinnerte sich an den Auftritt des einst glamourösen Paars bei Here’s Lucy! . Miriam regte sich immer ein bisschen über Lucille Ball auf; eine so hübsche Frau hatte es wirklich nicht nötig, sich zum Clown zu machen. Schönheit alleine reichte als Daseinsberechtigung aus – man brauchte sich ja nur Elizabeth Taylor anzusehen, falls noch jemand Zweifel hatte. Aber die Mädchen liebten die Serie trotzdem. Miriam fiel wieder ein, wie Lucy in der Sendung den Ring von Elizabeth Taylor anprobierte und ihn nicht mehr abkriegte. Da war was los! Münder und Augen weit aufgerissen.
    Genauso zogen sich die Leute Miriams Schmerz über, trugen
ihn für sie zur Schau, fast als ob sie erwarteten, dass sie von ihrem Interesse geschmeichelt sei. Und wenn sie genug davon hatten, legten sie ihn genauso einfach wieder ab. Sie zogen ihn ab wie einen Ring, gaben ihn ihr zurück und setzten ihr eigenes heiles und verdammt fades Leben fort.

Kapitel 18
    Es hatte sie eine Menge Gebettel und Versprechungen gekostet, aber schließlich durfte sie doch zu der Party gehen. Sie hatte sich mit ihnen darum gestritten, na ja, nicht wirklich gestritten, schließlich war es bei ihnen verpönt, die Stimme zu erheben – sie hatte behauptet, es würde den anderen in der Schule merkwürdig vorkommen, wenn sie immer alle Einladungen ablehnte. Wenn sie so sein sollte wie alle anderen Kinder, musste sie auch zu den Partys. Onkel und Tante, wie sie sie in der Öffentlichkeit nennen sollte, waren sehr darauf bedacht, nicht aufzufallen. Das ergab einen Sinn in Anbetracht all der Geheimnisse, die sie hatten, und all der Lügen, die sie erzählten, aber sie verstand nicht, wie sie ihre Sonderbarkeit vor sich selbst verbergen konnten. Wie konnten sie nur die Augen vor ihrer eigenen Absonderlichkeit verschließen? Man schrieb das Jahr 1976, das zweihundertjährige Bestehen der USA wurde gefeiert, man war inmitten eines Jahrzehnts, das gezeigt hatte, dass alles möglich war, selbst in einer Kleinstadt wie dieser. Ein Krieg war zu Ende gegangen, ein Präsident war gestürzt worden, weil die Menschen einen neuen Kurs eingefordert hatten; sie hatten ihre Stimme erhoben, demonstriert und manche waren auch dafür gestorben. Sie dachte in dem Zusammenhang nicht an die Soldaten in Vietnam, sie dachte nie an sie. Sie dachte an das Kent- State-Massaker, ein Ereignis, von dem sie sich im Nachhinein wünschte, sie hätte ihm mehr Aufmerksamkeit gewidmet, aber da war sie noch viel jünger gewesen.

    Ein kleines Mädchen verstand so etwas nicht und interessierte sich noch

Weitere Kostenlose Bücher