Was die Toten wissen
viel weniger dafür.
Jetzt interessierte sie sich aber dafür. In der Bücherei hatte sie eine Ausgabe des Time -Magazins gefunden, mit dem Foto des Mädchens, das neben einem Jungen kauerte. Das Mädchen war eine Ausreißerin gewesen, sie gehörte eigentlich gar nicht dorthin, und sie war in die Geschichte eingegangen. Das Foto stellte eine Art Versprechen für sie dar: Sie konnte ebenso weglaufen. Sie konnte in die Geschichte eingehen. Und wenn sie es schaffte, etwas Großes und Bedeutsames zu vollbringen, würde man ihr vielleicht verzeihen.
Aber im Augenblick wartete sie glücklich in einem Partyraum darauf, dass jemand ihre Nummer aufrief für »Fünf Minuten im Himmel«. Das Spiel hatte mit Meinungsverschiedenheiten angefangen, nicht weil einige Mädchen nicht mitspielen wollten – eigentlich waren alle scharf darauf -, doch die Ansichten darüber, wie lange die Paare im Schrank bleiben sollten, waren auseinandergegangen. Ein paar waren für zwei Minuten und beriefen sich dabei auf niemand Geringeren als Margret, das Mädchen in dem Teenie-Schmöker, den alle gelesen hatten . Andere wiederum meinten sieben, weil sich das einfach richtig anhörte: Sieben Minuten auf Wolke sieben! »Wir einigen uns in der Mitte«, bestimmte Kathy, die Gastgeberin. Ein beliebtes, richtig nettes Mädchen, das charmant seinen Einfluss nutzte. Wenn Kathy fand, dass »Fünf Minuten im Himmel« okay sei, dann blieb es auch dabei.
Das war noch so etwas, was Onkel und Tante nicht verstanden, die Welt vor ihrer Haustür: Sex war überall, selbst hier, selbst unter den Jüngsten, gerade unter den Jüngsten. Doktorspiele, Flaschendrehen und nun »Fünf Minuten (oder zwei oder sieben) im Himmel«. Sex kam zuerst, noch vor Alkohol und Drogen, wobei Drogen hier ganz massiv geächtet wurden. Viel zu Hippie-mäßig. Ihre Klassenkameraden jedenfalls hielten sich lieber ans Fummeln und Grapschen.
Sie war dabei allerdings die Einzige, die richtigen Geschlechtsverkehr im Federbett hatte. Dessen war sie sich ziemlich sicher, nicht, dass sie sich getraut hätte, mit den anderen Vergleiche zu ziehen. Wenn sie jemandem von ihrem Leben zu Hause erzählen würde, würden die sie sofort dort rausholen, und das wäre bestimmt noch schlimmer.
Die Vorstellung, sich an einem Samstagnachmittag bei Tageslicht zu küssen, fiel ihr schwer. Sex war sonst immer eine nächtliche Aktion, grausig, im Stillen, in einem Haus, in dem alle vorgaben, nichts davon mitzubekommen, das Quietschen des Rosts, die Art und Weise, wie das Gestell wackelte und dumpf gegen die Wand schlug, wie Wellen gegen die Mole klatschten. Wellen gegen die Mole … Mit acht war sie in Annapolis beim Muschelfest gewesen. Sie trug orange-pinkfarbene kurze Hosen. Die Muscheln schmeckten ihr nicht, aber das Fest gefiel ihr. Alle waren damals glücklich gewesen.
Tagsüber war sie eine entfernte Cousine aus Ohio, mit einem Namen, den sie zutiefst verabscheute – Ruth! Wenn sie unbedingt einen neuen brauchte, warum dann nicht Cordelia oder Geraldine, einen, den sich Anne in Anne auf Green Gables ausgesucht hätte. Aber Onkel erklärte ihr, dass die Auswahl begrenzt und Ruth das Beste sei, was er bieten konnte. Ruth hatte einmal wirklich existiert, ein Mädchen, das nur drei, vier Jahre alt geworden und mitsamt seiner Familie in einem Feuer umgekommen war, an einem Ort, der Bexley hieß. Ruth war später geboren als sie, deshalb steckten sie sie in eine niedrigere Klasse. Sie hatte erwartet, dass der Unterricht langweilig und voller Wiederholungen sein würde. Aber tatsächlich war es schwerer an der neuen Shrine-of-the-Little-Flower-Schule. Sie war sich nicht sicher, ob es an den Nonnen lag oder daran, dass die Klassen kleiner waren, oder an beidem. Bei den vielen Hausaufgaben blieb ihr keine Zeit, all die Dinge zu lernen, die sie über ihr neues Ich wissen sollte, und sie sorgte sich, dass jemand sie etwas über Ohio fragen könnte, worauf sie keine
Antwort wusste – nach der Hauptstadt, der Blume, dem Vogel des Bundesstaates. Aber niemand fragte je danach. Ihre neuen Klassenkameraden kannten sich untereinander seit ihrer frühesten Kindheit und waren es nicht gewohnt, mit Fremden umzugehen. Man hatte ihnen eingebläut, Ruth nicht auf die furchtbaren Dinge anzusprechen, die ihrer Familie in Ohio widerfahren waren.
Ein Mädchen, das sie zu Hause als »Spastikerin« bezeichnet hätten, aber der Begriff wurde hier offenbar nicht benutzt, fragte sie nach den dunklen Farben.
»Farben?«
»Wegen
Weitere Kostenlose Bücher