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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lippman
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der Brandwunden?«
    »Oh, du meinst die Narben. « Sie hatte nur eine Sekunde gebraucht, Lügen war ihr zur zweiten Natur geworden. »Die sind da, wo sie niemand sehen kann.«
    Das bereute sie bald, weil die Jungs der Little-Flower-Schule davon Wind bekamen und untereinander tratschten, wer wohl als Erstes Ruths Narben zu sehen bekommen würde, so auch heute, als »Fünf Minuten im Himmel« vorgeschlagen worden war. Sie sah, wie Jeffrey auf sie zeigte, Billy in den Arm knuffte und auffällig laut flüsterte: »Vielleicht zeigt dir Ruth ihre Narben.« Sie wusste, dass Jeffrey sie mochte, dass das Aufziehen eine Art Flirt war, aber sie machte sich nichts daraus. Wenn die Mädchen in der Little Flower nicht wussten, was sie mit einem neuen Mädchen anfangen sollten, die Jungs wussten es oder glaubten es zumindest. Sie mochten sie, diese mysteriöse, verbotene Ruth, mit ihrer tragischen Vergangenheit, die nicht erwähnt werden durfte. Sie sorgte sich, dass sie den Sex an ihr rochen, trotz der ausgiebigen Duschbäder, die sie morgens und abends nahm und die ihr strenge Belehrungen über das Vergeuden von Brunnenwasser und die Kosten von Erdgas einbrachten.
    »Siebenundvierzig!«, rief Bill aus. Das war ihre Nummer. Die anderen Kinder johlten und kreischten, wie jedes Mal. Sie
ging so würdevoll wie möglich zum Schrank hinüber, wusste, dass Bill ihr folgte und hinter ihrem Rücken Grimassen vor seinen Freunden schnitt. Auch das machten alle selbstbewussten Jungs, rief sie sich ins Gedächtnis.
    Der Schrank war eigentlich eine Speisekammer, in der Kathys Mum das Eingemachte vom Sommer aufbewahrte. Tomaten, Paprika und Pfirsiche starrten auf sie herab. Sie erinnerten sie an die Einweckgläser aus Horrorfilmen, an die in Sole eingelegten Gehirne in Frankenstein Junior. Abbie. Abbie Normal. Das wäre ein gutes Pseudonym. Tante weckte auch Lebensmittel ein und kochte wunderbare Marmelade. Apfel, Pfirsich, Pflaume und Kirsche – Nein, nicht an den Kirschbaum denken. Auf dem Boden stand ein großer Kühlbehälter, und sie setzten sich darauf, Hüfte an Hüfte, schüchtern und verlegen.
    »Was möchtest du machen?«, fragte Bill.
    »Was möchtest du machen?«, entgegnete sie.
    Er zuckte die Schultern, als ob ihn die Situation langweilen würde, als ob er bereits alles gesehen und ausprobiert hätte.
    »Möchtest du mich küssen?«, wagte sie sich vor.
    »Ja, warum nicht?«
    Er roch nach Kuchen und Kartoffelchips, irgendwie angenehm. Er öffnete den Mund, versuchte aber nicht, seine Zunge in ihren Mund zu stecken. Die Arme hielt er weiterhin an der Seite, als ob er Angst hätte, sie zu berühren.
    »Nett«, sagte sie höflich und meinte es auch.
    »Noch mal?«
    »Klar.« Sie hatten ja fünf Minuten.
    Diesmal steckte er seine Zunge ein ganz kleines Stückchen in ihren Mund, behielt sie da und wagte kaum zu atmen, als ob er damit rechnete, dass sie protestieren oder ihn wegstoßen würde. Stattdessen musste sie sich darauf konzentrieren, den Mund nicht im Reflex weiter zu öffnen und seine Zunge ganz hineinzuziehen. Sie war inzwischen sehr geübt, beherrschte die
Techniken, die die nächtlichen Transaktionen beschleunigten. Was hätte wohl Ruth, die echte Ruth, getan, wenn sie nicht mit vier Jahren in einem Feuer verbrannt wäre? Was wüsste Ruth? Wie würde sie vorgehen? Bills Zungenspitze lag immer noch auf ihrer Unterlippe, wie ein Krümel oder eine Haarsträhne, die sie gern beiseitegestrichen hätte. Aber sie tat es nicht.
    »Was willst du sonst noch machen?«, fragte Bill, nachdem er zum Atmen die Zunge zurückgezogen hatte. Er hatte keine Ahnung, wurde ihr klar. Er wusste nichts von all den Dingen, die man selbst in fünf Minuten machen konnte. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie es ihm zeigen sollte, aber sie wusste, das hätte verheerende Folgen. Als ihre fünf Minuten vorüber waren und die anderen gegen die Schranktür hieben und ihnen zuschrien, sie sollten ihre Kleider wieder anziehen, die noch nicht mal verrutscht waren, war Bill immer noch so unbedarft, wie sie sich wünschte, dass sie es wäre. Dann rief Kathys Mutter von oben, es sei Zeit, nach Hause zu gehen, und dadurch blieb es ihr erspart, eine Nummer aufzurufen.
     
    »Wie war die Party?«, fragte Onkel.
    »Langweilig«, antwortete sie wahrheitsgemäß, aber es war eine Wahrheit, die ihm gefallen würde. Wenn die Party langweilig gewesen war, dann wollte sie vielleicht auf keine mehr. Er sorgte sich, wenn sie alleine unterwegs war, wenn niemand aus der

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