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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lippman
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Familie sie im Auge hatte. Er traute ihr nicht so ganz, wenn sie außer Haus war. Außerdem wollte sie ihm gern gefallen. Auf seine sonderbare Art war er auf ihrer Seite, und das war sonst niemand im Haus, noch nicht einmal die Hunde, die gemein und böse waren und nur ihren Mantel schmutzig machten und ihr die Strumpfhosen zerfetzten.
    »Ich glaube, ich gehe noch ein bisschen raus«, sagte sie.
    »Bei der Kälte?«
    »Nur hier bei uns, nicht weit.«
    Sie lief hinüber zu den Obstbäumen, zum Kirschbaum. Zu
dieser Jahreszeit ließ sich schwer feststellen, ob es tatsächlich Knospen waren oder ob es nur die Sehnsucht danach war, ein Trick der Märzendämmerung, deren graugrüne Schatten wie das Versprechen neuen Lebens wirkten.
    »Ich habe heute einen Jungen geküsst«, erzählte sie dem Baum, der Dämmerung, dem Boden. Nichts regte sich, aber die daraus sprechende Normalität vermittelte ihr das Gefühl, dass sie vielleicht eines Tages auch wieder normal sein würde, dass sie alles rückgängig und richtig machen könnte. Irgendwann einmal.
    Sie war Ruth aus Bexley in Ohio. Ihre gesamte Familie war bei einem Feuer ums Leben gekommen, als sie drei oder vier war. Sie war aus dem Fenster im ersten Stock gesprungen und hatte sich dabei den Knöchel gebrochen. Deshalb war sie eine Klasse zurück, weil sie so lange im Krankenhaus gelegen hatte. Nein, sie war nicht sitzen geblieben. Sie hatte nur in diesem Jahr nichts für die Schule machen können, und in Ohio hatten sie einen anderen Lehrplan gehabt. Deshalb wusste sie auch einiges nicht, was sie hätte wissen sollen.
    Ja, sie hatte Narben, aber dort, wo sie niemand sehen konnte, selbst dann nicht, wenn sie einen Badeanzug trug.

Teil V
    FREITAG

Kapitel 19
    »Ich kann nicht«, sagte sie. »Ich kann einfach nicht.«
    Schon merkwürdig, wie man manche Dinge, die man in der Schule gelernt hatte, nicht vergaß. Infante war nie ein besonders guter Schüler gewesen, aber eine Weile lang hatte er sich ernsthaft für Geschichte interessiert. Am Freitagmorgen wurde er im Krankenzimmer der rätselhaften Frau an etwas erinnert, was er einmal über Ludwig XIV. gehört hatte. Oder vielleicht war es auch Ludwig XVI. gewesen. Bestimmte Könige zwangen ihre Bediensteten dazu, ihnen beim Ankleiden zuzusehen, um sie ihre Macht spüren zu lassen. Beim Anziehen und Baden und Gott weiß was noch alles. Als Vierzehnjähriger in Massapequa hatte er das nicht geglaubt. Wer wirkte denn machtloser als ein nackter Mann oder ein Typ, der gerade einen abdrückte? Aber als er heute Morgen die Frau dabei beobachtete, wie sie sich zurechtmachte, fiel ihm die Geschichtsstunde wieder ein.
    Was nicht hieß, dass sie sich vor ihm auszog – keineswegs. Sie war noch immer im Flügelhemd, mit einem bunten Tuch über den knochigen Schultern. Dennoch kommandierte sie Gloria und diese Sozialarbeiterin des Krankenhauses, wie hieß sie gleich noch mal, in dieser sehr erhabenen Art herum und ignorierte ihn. Wenn er nichts von ihr wüsste, hätte er sie als reiche Hexe eingeordnet oder zumindest als Papas Töchterchen, als eine, die daran gewöhnt war, zu kriegen, was sie wollte. Von Männern wie von Frauen. Die beiden sprangen umher, wetteiferten quasi miteinander, wer was für sie machen durfte.

    »Meine Kleider …«, fing sie an und betrachtete die Klamotten, die sie getragen hatte, als sie im Krankenhaus aufgenommen wurde, und selbst Kevin verstand sofort, warum sie die nicht mehr tragen wollte. Es waren Trainingssachen, ein weites Oberteil und eine enge Yogahose, alles von Under Armour, einer Marke, die gerade total angesagt war. Die Sachen rochen muffig, nicht nach diesen säuerlich-ätzenden Ausdünstungen wie nach dem Training, eher dieser Daringeschlafen-zu-lang-getragene-Geruch. Er fragte sich, wie lange sie darin schon unterwegs gewesen war. Den ganzen Weg von Asheville? Womit hatte sie dann das Benzin bezahlt, ohne Portemonnaie und Bargeld? Konnte sie ihren Geldbeutel aus dem Autofenster geworfen haben? Gloria versuchte weiterhin, die Ereignisse nach dem Unfall mit reiner Panik zu erklären, das Adrenalin war für die falschen Entscheidungen verantwortlich gewesen. Aber man konnte dem entgegenhalten, dass es reine Berechnung gewesen war, dass sie vom Unfallort geflohen war. Die Frau wollte Zeit gewinnen, um sich eine Geschichte auszudenken.
    Eine Geschichte, die sie mit einem Cop als Schänder angereichert hatte, sobald sie erfahren hatte, dass die Staatsanwaltschaft sie vor eine Anklagejury stellen

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