Was du liebst, gehört dir nicht - Doughty, L: Was du liebst, gehört dir nicht - Whatever You Love
des Schulbesuchs ihrer Kinder. Das Ganze zog sich nun schon seit Jahren hin.
Ich weiß nicht, was genau ich vorhabe, aber ich weiß, dass ich das Lager unbeobachtet in Augenschein nehmen kann, wenn ich über den abschüssigen Teil des oberen Steilküstenwegs zu dem kleinen, gemauerten Unterstand dahinter gehe. Der ist vorne offen, mit einer Bank darin, aber dem Meer zugewandt, sodass ich mich nur seitlich danebenkauern kann – dann ist in einiger Entfernung das Lager zu sehen, aber wenn von dort jemand herüberschaut, bezweifle ich, dass er mich ausmachen könnte, die kleine Gestalt neben dem Unterstand. Bei meinem ersten Besuch bleibe ich zwei Stunden lang da, sehe aber niemanden außer ein paar Männern, die aus einem Wohnwagen treten, in eins der Autos steigen und über den Feldweg wegfahren. Ich warte lange, bis ich so durchgefroren und steif bin, dass ich kaum noch aufstehen kann. Nächstes Mal, überlege ich mir, werde ich besser vorbereitet kommen.
Der nächste Tag ist ein Samstag, und ich gehe zweimal hin, einmal am Morgen und einmal am Nachmittag, diesmal wärmer angezogen. Ich hoffe, dass am Wochenende mehr los sein wird, aber auf dem Industriegelände wird offenbar durchgehend in Schichten gearbeitet, denn als ich ankomme, wirkt das Lager wie ausgestorben. Irgendwann gehen zwei junge Frauen von Wohnwagen zu Wohnwagen, ein andermal kommt ein Trupp Kinder aus dem einen und läuft in Richtung Felder, doch sie haben Jacken und Mützen an und laufen in einem so dichten Pulk mit den Rücken zu mir davon, dass ich nicht mit Sicherheit sagen kann, ob der Neffe unter ihnen ist. An den Wochenenden sind mehr Spaziergänger draußen an der frischen Luft, und obwohl es regnerisch und grau ist und nicht besonders viele Leute an mir vorbeikommen, möchte ich nicht zu lange bleiben. Nach meinem zweiten Besuch breche ich frustriert und enttäuscht auf. Ich fahre nach Hause und trinke eine ganze Flasche Wein. Als ich sie halb geleert habe, schicke ich David eine SMS: Sorry dass ich Rees nicht angerufen hab sehr müde melde mich morgen. Er antwortet nicht.
Es ist mein dritter Besuch, früher Sonntagvormittag, das Wetter immer noch grau und feucht. Draußen auf See spiegeln die Wellen den Himmel, schwer und wogend; es ist Flut, die Wolken hängen tief, der Rest der Welt wird dazwischen zermahlen. Ich habe eine Thermosflasche mit Kaffee und eine Plastikwasserflasche von Rees dabei, in die ich etwas Whisky gefüllt habe – auf der Wasserflasche sind Dinosaurier abgebildet. Heute bin ich fest entschlossen, das Lager so lange wie nötig zu beobachten. Wenn ich heute nichts unternehme, werde ich von den Ereignissen überrollt.
Der Whisky macht mir Mut. Zum Frühstück hatte ich nur eine halbe Scheibe Toast und zwei Tassen Tee, doch der Whisky ist alle, noch bevor ich den Deckel der Thermoskanne aufgeschraubt habe. Das Handy in meiner Handtasche macht immer mal wieder ein leise schnurrendes Geräusch, bei dem Wind gerade eben noch zu hören. Ich ignoriere es.
Ich bin lange genug da, um trotz Kaffee und Whisky durchzufrieren – etwa eine Stunde, schätze ich. Ich habe deutlich den Eindruck, dass unten im Lager mehr Leute zugange sind. Männer treffen ein und fahren wieder weg. Die beiden jungen Frauen kommen raus und hängen Wäsche an eine Leine zwischen zwei Wohnwagen. Und dann sehe ich sie schließlich. Ich bin mir sicher, dass sie es sind, die Gruppe, die zum Krematorium kam, oder zumindest ein paar von ihnen. Sie verlassen das Lager und gehen in einer schrägen Linie den Hang zu den Klippen hinauf. Wenn sie immer so weitergehen, werden sie einige hundert Meter weiter vorn von da, wo ich neben dem Unterstand kauere, auf den Weg treffen. Hervorragend. Rasch stehe ich auf und stelle mich unter, damit sie mich während ihres Aufstiegs nicht sehen. Solange ich im Unterstand bleibe und nur um die Ecke spähe, werde ich sie sehen können, wenn sie den Weg betreten. Auch wenn ich vergessen habe, ein Fernglas einzustecken, habe ich immerhin an die Vorsichtsmaßnahme gedacht, einen Hut mit Krempe aufzusetzen, tief in die Stirn gezogen. An die Seitenwand gelehnt, beobachte ich den Weg, den kalten Wind im Gesicht.
Anscheinend gehen sie langsam. Eine ganze Weile sehe ich nichts von ihnen und befürchte schon, sie könnten es sich womöglich anders überlegt haben und in Richtung Lager umgekehrt sein, während ich im Unterstand war. Vielleicht haben sie mich entdeckt. Vielleicht sind sie äußerst vorsichtig, nach den Vorgängen der
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