Was du liebst, gehört dir nicht - Doughty, L: Was du liebst, gehört dir nicht - Whatever You Love
einen Namen, den der Wind fast verschluckt, doch es reicht, dass die Frauen sich umdrehen. Und zwar alle zugleich; ein Durcheinander entsteht, während sie mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen auf mich zustreben. Mir bleibt nur eine Sekunde, doch bis zum Klippenrand sind es wenige Schritte. Angekommen, halte ich den Jungen vor mich, zerre ihn aber seitlich zur Kante hin – die Geste ist unmissverständlich, und die Frauen, nur wenige Schritte von mir entfernt, erstarren. Ein atemloser Moment entsteht, ein lebendes Bild. Die Älteste, die Großmutter, hat sich kaum von ihrer Ausgangsstellung wegbewegt und liegt im nassen Gras auf den Knien, den Mund zum Schrei geöffnet, eine Hand auf den Boden gestützt, die andere hoch erhoben. Eine der Jüngeren hält sie an den Schultern. Die jüngste Frau ist mir am nächsten – sie könnte mich leicht erreichen, aber eine andere hat ihr zugerufen, sie solle stehen bleiben. Die etwas ältere Frau steht in der Mitte und starrt mich an. Sie redet schnell auf die Junge ein und behält mich dabei die ganze Zeit im Auge. Die anderen haben entsetzte, flehende Gesichter, nur ihres ist hart. Sie redet weiter auf die andere ein, die verzweifelt dreinschaut, drauf und dran, sich auf mich zu stürzen. Als die Jüngere nichts erwidert, bricht sie ab. Die Jüngere weicht einen Schritt zurück. Der Junge wimmert, kämpft aber nicht, obwohl zu vermuten ist, dass er unter normalen Umständen stärker ist als ich. Ich glaube, sie haben ihm eingeschärft, sich nicht zu rühren. Sie haben keine Ahnung, wozu ich fähig bin. Zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben habe ich eine Heidenangst ausgelöst. Das verleiht mir Stärke, ich fühle mich riesengroß.
Alle warten sie mit fest auf mich gerichteten Blicken, der Atem der Großmutter geht stoßweise. Sie starren mich an und erkennen, wie es mir scheint, die Katastrophe vor ihren Augen.
Mit hoher, harter Stimme übertöne ich den Wind. »Ihr glaubt, ihr wüsstet, wer ich bin!«, brülle ich. »Aber das stimmt nicht! Gar nichts wisst ihr! Begreift ihr das nicht?« Ich habe keine Ahnung, woher die Worte kommen. »Ihr glaubt, ich könnte es nicht tun!« Ich schüttele den Jungen etwas, und dabei rutscht mir das ins Geschirrtuch gewickelte Messer aus der Hand; beides fällt zu Boden. Ich packe den Jungen fester. Die Großmutter stößt einen Schrei aus. Die jüngere Frau neben ihr fällt auf die Knie und schließt die Augen.
Es ist eine Pattsituation. Mein Atem geht noch heftig, und die fahle Luft über mir dreht sich in Wirbeln. Die Brandung ist ohrenbetäubend. Mir ist, als könnten wir alle miteinander eine Ewigkeit hier bleiben. Ich fühle mich so stark wie eine Statue.
Dann höre ich einen Ruf von dem Grashügel, der sich hinter den Frauen erstreckt. Sie drehen sich um. Er kommt aus dem Lager angelaufen.
Die Frau mit dem harten Gesicht brüllt ihm etwas zu. Mit ausgestrecktem Arm ruft sie ihm zu, dass er umkehren soll. Er kann sie bei dem Wind und den Wellen nicht hören und läuft weiter auf uns zu. Als er nahe genug gekommen ist, brüllt sie wieder, und er bleibt stehen. Hinter ihm sind andere aus den Wohnwagen gekommen und beobachten uns.
Die Jüngere ist noch immer mir zugewandt. Sie streckt beide Arme aus. »Bitte …«, sagt sie stockend und sieht den Jungen an. »Bitte, zu mir.« Der Junge sagt etwas, vielleicht ihren Namen. Seine Stimme klingt verängstigt. Die junge Frau sieht mich an, versucht ein Lächeln und winkt ihn dann mit beiden Händen zu sich heran, als würde der Junge sich sträuben, zu ihr zu kommen, und sie müsste ihn locken.
Ich zeige mit dem Kinn auf ihn , den Mann, der meine Tochter getötet hat und der jetzt mit erhobenen Armen unten am Hang wartet, das Gesicht eine Maske des Schreckens und der Fassungslosigkeit.
Die junge Frau versteht es nicht, aber die mit dem harten Gesicht hinter ihr beobachtet uns. Barsch erklärt sie es ihr, und die jüngere Frau sagt: »Okay, okay. Er kommt.« Sie sieht den Jungen an, »zu mir«, und nickt ein paarmal.
Wieder hebe ich das Kinn. Die Frau mit dem harten Gesicht sagt etwas und beginnt dann zurückzugehen. Der Großmutter, die in Tränen aufgelöst ist, müssen sie den Hang hinunterhelfen.
Rasch eilen sie aneinandergedrängt nach unten. Die näselnde Stimme des Jungen ruft ein paarmal nach ihnen, doch sie drehen sich nicht um.
Als sie ihn, Mr. A., erreichen, gehen sie nach einem kurzen Wortwechsel mit ihm weiter. Er hält beide Hände hoch, während er sich mir
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