Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was du liebst, gehört dir nicht - Doughty, L: Was du liebst, gehört dir nicht - Whatever You Love

Was du liebst, gehört dir nicht - Doughty, L: Was du liebst, gehört dir nicht - Whatever You Love

Titel: Was du liebst, gehört dir nicht - Doughty, L: Was du liebst, gehört dir nicht - Whatever You Love Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Doughty
Vom Netzwerk:
letzten Zeit. Dann erscheint das Grüppchen schließlich auf dem Weg. Ich warte kurz, vergewissere mich, dass sie mir ein paar hundert Meter voraus sind und mir den Rücken zukehren, ehe ich aus der Deckung schlüpfe und ihnen folge.
    Die älteste Frau, klein und mollig, geht voran. Dass sie die Älteste ist, erkenne ich an ihrem Gang, der etwas Steifes hat. Eine junge Frau und eine mittleren Alters folgen dicht hinter ihr. Die vierte Frau der Gruppe – jung, ihrem Gang nach zu urteilen – bildet das Schlusslicht und hält den Jungen an der Hand. Der Junge. Ich beobachte den Jungen, während sie gehen – etwa acht Jahre alt, vermutlich, klein für sein Alter, aber kräftig, mit schwungvoll weit ausholendem Schritt, der irgendwie schon erwachsen wirkt. Ich starre den Jungen an, während ich gehe – langsam; das Grüppchen geht langsam, und ich möchte nicht riskieren, es einzuholen, bevor ich mir sicher bin. Die Frau mittleren Alters ist groß und trägt einen braunen Mantel; selbst von hinten bin ich mir ziemlich sicher, dass sie die Frau ist, die ich erst beim Krematorium, dann in der Lagerhalle gesehen habe. Sie hat etwas Gebieterisches an sich. Die jüngere Frau kommt mir von hinten auch bekannt vor, aber ich glaube nicht, dass sie diejenige ist, die Reißverschlüsse sortierte – vielleicht war sie in jener Nacht bei der Gruppe in der Notaufnahme. Vor allem der Junge interessiert mich. Das ist er also, denke ich. Das muss er sein. Der Neffe, der kostbare Neffe, um dessen Schulbildung Mr. A. so besorgt war, dessen Kopfverletzung ihn derart in Panik versetzte, dass er Hals über Kopf ins Krankenhaus fuhr und den Schauplatz eines tödlichen Unfalls verließ. Wut und Hass steigen in mir hoch, haushoch. Alle Kinder fallen irgendwann auf der Straße hin. Was für einen Grund zur Panik hatte der Onkel? Der Neffe lebt, oder etwa nicht? Da ist er, gesund und munter, klein für sein Alter und stämmig, von der Beule an seinem Kopf vollkommen genesen – und sein Onkel hat es gewagt, deshalb in Panik zu geraten, wegen einer Schürfwunde? Während sie in der Notaufnahme auf jemanden warteten, der ihm einen Verband anlegen sollte, lag meine Betty auf einem Bett, und eine Schwester wusch ihr Gesicht mit einem Schwamm und kämmte ihr Haar mit den Worten: Na komm, jetzt richten wir dich hübsch her für Mami, nicht wahr, du armes kleines Häschen.
    Mein Herz wummert. Mir wird schlecht davon, und ich gerate in Atemnot, noch bevor ich meinen Schritt beschleunige. Da wandert es, das Grüppchen, auf meinen Klippen, und alles kommt zusammen, alles, was mir immer im Kopf herumgegangen ist, die Ungerechtigkeit von allem; der Tod meines Vaters, die Krankheit meiner Mutter, David, den ich verloren habe, Betty und Willow, alles, was mir je zugestoßen ist, hat sich in mir zusammengeballt, um diesen Augenblick hervorzubringen. Ich laufe los. In meinem Nacken kribbelt der Schweiß, und das Herz schlägt rasch und hart in meiner Brust. Mit teuflischem Tempo nähere ich mich ihnen, meine Schritte geräuschlos auf dem nassen Gras. Bei dem Wind und der Brandung auf dem Geröll hören sie mich nicht. Der Junge trödelt. Der Junge. Jetzt ist er nur noch wenige Meter vor mir. Der Himmel über uns ist fahl. Zur Linken fällt der Grashang Richtung Lager ab. Zur Rechten endet der Abhang jäh. Unten brechen sich die Wellen an den Betonklötzen, den Felsen und Kieselsteinen ringsumher. Erst im Sekundenbruchteil davor merke ich, worauf ich zusteuere.
    Mit beiden Händen packe ich den Jungen von hinten. Die Linke umfasst seinen Oberarm, die Rechte krallt sich in seiner Jacke fest. Eine billige Steppjacke, das braune Synthetikmaterial glitschig in meiner Hand. In meiner Rechten halte ich auch das Messer, noch in ein Geschirrtuch eingeschlagen. Mein Griff ist zwar ungeschickt, aber die Linke schließt sich wie eine Schraubzwinge um seinen Arm. Als ich ihn packe, dreht er sich mit einem halblauten, erstaunten Aufschrei ein wenig um. Aus der Nähe ist seine Kleine-Jungen-Haut sehr blass, und ich sehe dunklen Flaum auf seiner Oberlippe. Ich korrigiere sein Alter nach oben. Trotz seiner geringen Größe sieht er stark aus, aber durch meinen Überraschungsangriff bin ich im Vorteil und kann ihn grob an mich ziehen, mit dem Rücken zu mir, und beide Arme von hinten um seine Schultern schlingen. Ich schwenke ihn so herum, dass er mit dem Gesicht zu den Klippen steht, und gemeinsam stolpern wir auf den Rand zu. Er schreit wieder auf, diesmal lauter, ruft

Weitere Kostenlose Bücher