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Was du liebst, gehört dir nicht - Doughty, L: Was du liebst, gehört dir nicht - Whatever You Love

Was du liebst, gehört dir nicht - Doughty, L: Was du liebst, gehört dir nicht - Whatever You Love

Titel: Was du liebst, gehört dir nicht - Doughty, L: Was du liebst, gehört dir nicht - Whatever You Love Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Doughty
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nähert, wie Leute in Kriminalfilmen, um zu zeigen, dass sie unbewaffnet sind. Als er nur noch wenige Meter von mir entfernt ist, bleibt er stehen. Mit einem Nicken fordere ich ihn auf näher zu treten. Als er gehorcht, versucht der Junge, sich zu entwinden, und ich packe ihn fester. Mit erhobener Hand klopft der Mann in die Luft, eine Geste, als wollte er uns beiden sagen: Immer mit der Ruhe …
    Ich sehe ihn mir gründlich an. Er ist größer, als ich von den Fotos her vermutet hätte, ein Bär von einem Mann, aber unproportioniert, muskulöse Arme und eine Wampe. Seine Wangen sind mit kurzen, grauen Bartstoppeln bedeckt. Dicke Augenbrauen, aber schütteres Kopfhaar. Die großen, dunklen Augen erinnern mich ein wenig an Davids, ausdrucksstark, können wahrscheinlich in raschem Wechsel so freundlich wie harsch sein. Auch bei den Gesichtszügen gibt es gewisse Ähnlichkeiten, große Nasen – fast könnten sie Vettern sein, nur dass der hier so viel auffälliger aus dem Leim gegangen ist. Ich habe das seltsame Gefühl, neu austariert zu werden, wie ich es damals hatte, als ich Chloe zum ersten Mal begegnet bin – eine eigenartige Mischung aus Aufregung, Scham und enttäuschter Erwartung, die wir empfinden, wenn wir merken, dass jemand, der uns verhasst war, doch eher ein Mensch als ein Gegenstand ist, zum Anfassen, komplex.
    »Sprechen Sie Englisch?«, frage ich, verwundert über die Normalität meiner Stimme.
    Er nickt.
    »Wissen Sie, wer ich bin?«
    Wieder ein Nicken.
    »Ich will mit Ihnen reden«, sage ich.
    Er sieht mich an. Sein Blick schnellt nach unten zu dem Jungen, dann zurück auf mein Gesicht.
    Ich schaue hinter mich aufs Meer hinaus. »Mir macht es nichts aus, zu sterben«, sage ich. »Verstehen Sie das?« Der Junge hängt schlaff in meinem Griff, wie ein nasser Sack. Ich habe fast vergessen, dass ich ein Kind festhalte.
    Wir starren uns an. Das Meer tost weiter – die Möwen kreischen immer noch. Ich habe wieder das Gefühl, ich könnte bis in alle Ewigkeit hierbleiben. Es fängt zu regnen an – ein leichter Sprühregen.
    Dann beugt Mr. A. langsam und steif das Knie. Er neigt den Kopf. »Wir bezahlen«, sagt er. »Wir bezahlen für Sachen. Es ist immer gerecht. Ich verstehe. Ich glaube, Sie verstehen.« Er streckt einen Arm zu seinem Neffen aus. »Dieser Junge. Er bezahlt nicht. Er ist es nicht.«
    Jetzt zittere ich, in einer Mischung aus Kälte, Adrenalin und dem Schock über meine eigene Handlungsweise, doch trotz der Ungeheuerlichkeit meiner Tat ist mir fast überirdisch ruhig und vernünftig zumute. Er weiß, wer ich bin, denke ich. Als ich zu dem Industriegelände ging, hat die Frau mich von der Begegnung beim Krematorium erkannt. Sie wissen alle, wer ich bin und warum ich hier bin. »Sehen Sie mich an«, sage ich. Er schaut auf. Wir starren uns an, und ich sehe etwas in seinem Blick. Ich weiß nicht, ob dieses Etwas der Erfahrung oder der reinen Furcht entspringt, doch es ist unverkennbar. Ich sehe, dass er Schmerz versteht.
    »Ich bezahle«, sagt er. »Sie wollen mich …«, er deutet über die Klippe. »Ich gehe jetzt. Ich mache es jetzt, aber Sie müssen den Jungen freilassen. Sie müssen ihn laufen lassen.«
    Das wird nicht gehen, denke ich. Das reicht mir nicht. Er versteht und versteht auch wieder nicht. Wenn es so einfach wäre, dass ich seinen Tod wollte, hätte ich auf der Straße auf ihn gewartet, den Fuß am Gaspedal. Das Messer würde jetzt in seinem fetten Bauch stecken. Das wäre zu glatt, zu einfach. So ist es nicht. Nichts ist jemals so.
    »Ich werde«, sagt er. »Ich werde …«, er verschluckt sich an seinen eigenen Worten; jäh von Gefühlen überwältigt, kämpft er gegen Tränen an, versucht, sie mit schnaufenden Atemzügen zu unterdrücken. Ich sehe die Panik in seinem Gesicht. Ich sehe, wie er denkt, ich war kurz davor, die Diskussion zu gewinnen, ich darf mir das jetzt nicht entgleiten lassen.
    Plötzlich geben meine Muskeln nach. Mein Griff lockert sich, und ich sinke im nassen Gras auf die Knie. Jetzt regnet es in Strömen. Mir ist mittlerweile alles egal. Ich mache mir nichts mehr aus Betty oder Rees oder David oder Chloe oder sonst wem. Der Junge reißt sich von mir los und rennt schreiend den Abhang hinab, an seinem Onkel vorbei, und Mr. A., noch auf den Knien, kriecht auf mich zu. Während ich die Augen schließe, denke ich, er wird mich mit einem kräftigen Schubs von den Klippen stoßen, und dann ist es vorbei. Ich bin froh.
    Im Regen trägt er mich den Grashang

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