Was du nicht weißt: Roman (German Edition)
fuhr der Bus an der leeren Strandpromenade entlang.
Debbie hob den Blick und schaute gedankenverloren aus dem Fenster. Sie hatte immer noch Probleme damit, etwas über den Tod eines Menschen zu lesen. Was diesem Opfer passiert war, klang besonders grausam.
Das Mordopfer war eine 24-jährige Polin namens Jolanta Nowak. Man hatte sie durch fünf bestialische Messerstiche umgebracht. Ein Arzt im Krankenhaus hatte sie wiedererkannt. Sie war erst vor vier Tagen bei ihm in Behandlung gewesen. Statt der von ihr erwarteten Entzündung der Eierstöcke hatte er bei ihr eine Schwangerschaft im zweiten Monat diagnostiziert.
Schnell verdrängte Debbie den aufkeimenden Gedanken an die ersten Ultraschallbilder ihres eigenen Kindes. Auch sie war damals erst vierundzwanzig gewesen und auf ein Kind in keiner Weise vorbereitet. Jetzt, mit Anfang dreißig, hätte sie vieles anders gemacht.
Als sie wieder in die Zeitung schaute, stach ihr das Foto der Toten ins Auge. Es war ganz offensichtlich ein Passfoto, das die Polizei veröffentlicht hatte. Am Rand konnte man noch einen blassen polnischen Stempel erkennen. Es zeigte eine schüchterne, schmalgesichtige junge Frau mit großen traurigen Augen und halblangen braunen Haaren.
Angestrengt dachte Debbie nach.
Wo war ihr diese Frau schon einmal begegnet? Als Kundin in der Bank? Am Strand von St. Brelade’s Bay? In der Stadt?
Es fiel ihr nicht ein.
Auch der Taxifahrer, der die Tote unfreiwillig transportiert hatte, fand in dem Artikel Erwähnung. Offenbar hatte man ihm die Leiche heimlich in den Kofferraum gelegt, während er seinen Wagen für einen kurzen Arztbesuch auf einem Platz hinter dem Strand geparkt und nicht abgeschlossen hatte.
Als Debbie mit einem erneuten Blick aus dem Fenster feststellte, dass sie gleich aussteigen musste, faltete sie die Zeitung zusammen und ließ sie in ihrer Handtasche verschwinden. Später im Büro würde sie sie noch einmal lesen. Sie rutschte aus der Sitzbank, zupfte ihren Rock zurecht und stellte sich vor die automatische Tür.
In der Scheibe konnte sie sehen, wie sich ihr blondes Spiegelbild über die vorbeiziehende Häuserfront der Victoria Esplanade hinwegbewegte. In ihrem dunkelblauen Kostüm mit der beigefarbenen Bluse sah sie aus wie all die anderen Bankangestellten draußen auf der Straße – dezent bis zur Langweiligkeit. Andererseits konnte sie froh sein, den Job in der Bank überhaupt bekommen zu haben. Nach dem Tod ihres kleinen Sohnes war sie psychisch in einen tiefen Krater gesunken. Viele Monate lang hatte es nicht so ausgesehen, als wenn sie es jemals wieder schaffen würde, im Beruf Fuß zu fassen.
Doch der Krater hatte sie wieder ausgespuckt. Es war alles so ungerecht. Sie lebte, aber ihr Sohn lag auf dem Friedhof. Immer wenn sie kurz die Augen schloss, konnte sie den lachenden kleinen David mit seinen lockigen braunen Haaren vor sich sehen. So machte sie es jeden Tag, wann immer sie wollte. So wie jetzt.
Mit einem Ruck bremste der Bus ab. Debbie öffnete schnell ihre Augen und hielt sich an der Haltestange fest, um nicht umzufallen.
Genau in diesem Moment fiel ihr wieder ein, wo sie die junge Polin gesehen hatte. Es war seltsam, sofort empfand sie den Gedankenblitz als Himmelsgeschenk von David.
Es war vor zehn Monaten gewesen, auf seiner Beerdigung.
Inmitten der Menge dunkel gekleideter weinender Menschen war die Unbekannte nach der Grabrede hinter Davids kleinem Kindergrab aufgetaucht. Sie war die Einzige unter den Trauergästen gewesen, die Debbie nicht gekannt hatte.
Was hatte Jolanta Nowak dorthin getrieben?
Debbie bekam Angst. Schon lange hatte sie den Verdacht, dass sie nicht die ganze Wahrheit über den Tod ihres Sohnes wusste. Seine fünf jämmerlich kurzen Kinderjahre hatten am Ende nur noch aus Krankenhausaufenthalten und aus der Tortur schrecklicher Asthmaanfälle bestanden. Irgendetwas hatte seinen kleinen Körper so geschwächt, dass er den Krankheiten keinen Widerstand mehr entgegensetzen konnte. Auch die Ärzte hatten nicht mehr weitergewusst. Sie hatte David beerdigt in dem ohnmächtigen Gefühl, sie müsse ihn aus Unwissenheit gehen lassen. Heute bereute sie heftig, dass sie damals einer Obduktion nicht zugestimmt hatte.
Der Bus hielt an, zischend öffnete sich die automatische Tür. Debbie stieg aus, bis zur Verwirrung beschäftigt mit der Frage, was sie jetzt tun sollte. Unschlüssig blieb sie an der Bushaltestelle stehen.
Es gab eigentlich nur einen Menschen, der ihr jetzt weiterhelfen konnte –
Weitere Kostenlose Bücher