Was du nicht weißt: Roman (German Edition)
ihr Cousin Oliver. Auch wenn er das schwarze Schaf in der Familie war, um den kleinen David hatte er sich immer rührend gekümmert. Sie wusste, wo sie ihn um diese Zeit finden konnte.
Während sie ihre Schritte bereits Richtung Hafen lenkte, wählte sie kurz entschlossen die Handynummer ihrer Kollegin Lindsay in der Bank. Debbie hatte Glück, sie saß bereits an ihrem Platz.
»Lindsay? Könntest du bitte dem Chef sagen, dass ich heute etwas später komme?«
»Nicht nötig. Mr. Arnold kommt selbst erst nachmittags von den Verhandlungen in London zurück. Irgendwelche Probleme? Du klingst so aufgeregt.«
»Nein … oder doch, ja … Es ist wieder mal was Familiäres. Ich muss noch schnell meinen Cousin treffen, bevor ich ins Büro komme.«
»Ah – den Netten mit den Locken? Der immer in Archies Pub rumhängt?«
Lindsay hatte Oliver so in Erinnerung, wie er vor einem halben Jahr ausgesehen hatte. Jetzt würde sie ihn höchstwahrscheinlich nicht mehr wiedererkennen.
»Ja, den. Ich beeil mich auch.«
»Lass dir ruhig Zeit. Und grüß ihn schön.«
»Mach ich. Bis später.«
Während Debbie über die große Kreuzung ging und auf eine schmuddelig wirkende Eckkneipe gegenüber dem Hafen zusteuerte, bereitete sie sich innerlich auf das Treffen mit Oliver vor. Er war drei Jahre jünger als sie und als Schulabbrecher die meiste Zeit arbeitslos. Mit seinem gutmütigen Charakter hätte er leicht eine Ausbildungsstelle finden können, das sagte jeder, der ihn kannte. Aber durch seine krankhafte Faulheit – die Psychologen des Arbeitsamtes nannten es in ihren Papieren rücksichtsvoll Lethargie – hatte er jede sich bietende Chance vertan.
Dennoch war Oliver viele Monate lang für Debbie ein Rettungsanker gewesen. Als alleinerziehende Mutter war sie oft genug mit dem kränkelnden Kind und den ständigen Geldsorgen überfordert gewesen. Ihre Mutter war tot, ihre einzige Schwester lebte in England. Wann immer sie Überstunden machen musste, um zusätzlich ein paar Pfund zu verdienen, hatte Oliver bereitwillig seinen kleinen Neffen zu sich genommen und auf ihn aufgepasst.
Debbie empfand es als besonders tragisch, dass Davids Tod ihn noch ein Stück weiter aus der Bahn geworfen hatte.
Natürlich hatte sie versucht, ihm wieder auf die Beine zu helfen. Sie hatte in seinem Namen auf Stellenanzeigen geantwortet, knüpfte Kontakte für ihn, half ihm gelegentlich mit einer kleinen Summe – doch er weigerte sich hartnäckig, sein Leben zu ändern. Warum, blieb ihr ein Rätsel.
Seit einiger Zeit hing er schon morgens in seinem Stammlokal herum. Nur wenn er zweimal, bestenfalls dreimal die Woche Aushilfsjobs im Hafen bekam, riss er sich für ein paar Stunden zusammen.
Als Debbie die rote Tür zu Archies Pub öffnete und eintrat, hoffte sie inständig, dass Oliver heute halbwegs ansprechbar war.
Laute Popmusik dröhnte ihr entgegen. Offenbar hatte Archie das Radio nur für sich selbst aufgedreht, denn Gäste waren um diese Uhrzeit noch nicht zu sehen. Der ganze Raum roch nach schalem Bier. Mit müdem Gesicht und zerstrubbelten Haaren stand Archie hinter dem Tresen und trocknete Gläser ab. Als er Debbie erkannte, hob er kurz das Kinn in Richtung der Treppe, die zu den Toiletten hinunterführte.
Mit mulmigem Gefühl ging Debbie weiter, bis sie schließlich ihren Cousin entdeckte. Als ewiger Stammgast saß er am letzten Tisch in einer schummrigen Nische. In seiner verwaschenen Jeansjacke sah er zwar immer noch jungenhaft aus, aber sein Äußeres war ziemlich ungepflegt. Die blonden Locken, die ihn früher immer so fröhlich aussehen ließen, waren fettig und lang, das löchrige Hemd war schmutzig. Mit gekrümmtem Rücken hing er über seinem Teller, auf dem ein angebissenes Croissant lag. Daneben stand ein Glas starkes dunkles Lagerbier, das er schon fast leer getrunken hatte.
Debbie hätte heulen können darüber, wie heruntergekommen Oliver wirkte. »Hallo, Oliver.«
Erstaunt ließ er seinen müden Blick an ihr hochwandern.
»Debbie? Was machst du denn hier?«
Sie setzte sich ihm gegenüber und legte die Hände auf den braunen Tisch, aber die Tischplatte war so klebrig, dass sie sofort wieder davon abrückte.
»Ich muss mit dir reden«, sagte sie.
Oliver wirkte, als hätte er die ganze Nacht durchgefeiert. Meistens spielte er mit seinen Freunden Karten.
»Reden ist immer gut …« Er nickte mit halb geschlossenen Lidern. »Aber versuch bloß nicht, mir wieder irgendeinen blöden Job unterzujubeln …«
»Nein«,
Weitere Kostenlose Bücher