Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Marlantes
Vom Netzwerk:
werden. Es gelang mir, mit der rechten Hand etwas im Türrahmen zu fassen zu bekommen. Mein M 16 baumelte mir am rechten Arm, und meine Beine traten ins Leere, als der Hubschrauber nach vorne kippte. Ich kannte das Manöver. Schwer beladen und in dünner Luft hatten die Piloten die Maschine in einen steilen Sinkflug zu bringen und über den Abhang in die Tiefe zu stürzen, statt über der Landezone aufzusteigen. So nahmen sie Geschwindigkeit auf und verschafften sich genug Auftrieb, um sicher loszukommen. Über den Rand des Grats ging es, mein Körper und meine Beine wehten hinaus in die Luft, ich schrappte über die Spitze eines zersplitterten Baumes und schlug mir heftig den Knöchel an.
    Der Hubschrauber vollführte eine enge Wende, kippte nach rechts, und der Marine, an dem ich hing, rutschte in Richtung Öffnung und Nichts. Meine Beine flogen vom Hubschrauber weg. Gott sei Dank gelang es einem anderen verwundeten Marine, meinem Helfer einen Munitionsgurt ums Bein zu wickeln und ihn so zunächst einmal festzuhalten. Schließlich schlangen andere Verwundete ihre Feldflaschenriemen um uns und nahmen damit die Last von unseren Armen. Ich flog das ganze Stück bis zum Lazarett frei in der Luft hängend mit. Als wir landeten, setzte ich noch vor dem Hubschrauber auf, da meine Füße tiefer als die Kufen hingen. Ich war der Götterbote Hermes, der mit Flügeln an seinen Stiefeln landete – und ein Soldat, der in einer von getrocknetem Durchfall und Sperma verklebten Hose steckte.
    Sechs Stunden später stand ich sauber gekleidet und mit einem neuen Haarschnitt in der angenehm gekühlten Luft des White Elephant, eines Clubs in Da Nang. Hier brauchte ich keine Flügel mehr, der Boden war mit weichen Teppichen bedeckt. Dazu gab es Amerikanerinnen in Miniröcken und amerikanische Männer in zivilen, kurzärmeligen weißen Hemden oder gestärkten, gebügelten Uniformen. Eis klackerte in schweren Gläsern. Der Unterhaltung halber würfelten die Leute aus, wer die Getränke bezahlen würde.
    Ich saß an der Theke und quetschte Eiter aus meinen Tropengeschwüren und infizierten Egelbissen auf eine Papierserviette mit dem Logo des MACV , des Military Assistance Command Vietnam, des Oberkommandos der Streitkräfte in Südvietnam. Ich spürte, wie Wut in mir aufstieg. Heute weiß ich, dass diese Wut mit der Respektlosigkeit zu tun hatte, mit der die Leute um mich herum tranken und sich unterhielten, während meine Freunde draußen im Dschungel in ebendiesem Moment starben. Meine Wut hatte etwas Puritanisches, indem ich an der Dekadenz des Ganzen Anstoß nahm – und an der Tatsache, dass ich mich genauso verhielt wie diese Leute. Um meine widerstrebenden Gefühle zu besänftigen, trank ich zu viel.
    Von falschem Mut und Verlangen getrieben, quälte ich mich zusätzlich damit, dass ich mich so nahe wie nur möglich, ohne dass es unverschämt wirkte, an eine Rotkreuzschwester und ihren Begleiter herandrängte, der übergewichtig war und für die AID arbeitete, die Agency for International Development. Sie unterhielten sich über abgabenfreie Autokäufe. Offenbar gab es irgendwo eine deutsche Frau, die eine Verkaufsagentur für Mercedes eröffnet hatte und ein Vermögen damit verdiente. Dann hörte ich, wie der AID -Mann der Rotkreuzschwester erzählte, er bekomme eine Gefahrenzulage, weil er in einer Kampfzone arbeite.
    Das Ganze war Monate nach meinem Zusammentreffen mit dem Armeegeistlichen. Mittlerweile nahm ich nichts mehr locker hin. Ich war noch ein ganzes Stück von der Erleuchtung entfernt, aber man musste nicht Jesus sein, um zu sehen, dass da jemand auf den Kirchenboden pinkelte. Die Wut brach aus mir heraus. Ich wollte den Kerl umbringen, weil er das Wort Kampfzone entweiht und ihm seine Bedeutung genommen hatte. Ich machte ein Riesentheater.
    Ein schmallippiger Geschäftsführer und ein paar Militärpolizisten, die mich nach Namen, Rang, Einheit und Seriennummer fragten, eskortierten mich vor die Tür. Ich log sie rundweg an. Erst heute wird mir bewusst, dass sie nur nach meiner Hundemarke hätten fragen müssen, um mir auf die Schliche zu kommen. Ein paar Stunden später saß ich in einer Boeing  707 mit Stewardessen, die Cola und Erdnüsse in kleinen Plastikbechern servierten. Kaum einer der Passagiere war alt genug, um Alkohol trinken zu dürfen. Weitere drei Stunden später betrank ich mich in der Venus Bar in Kowloon und versuchte mich zu entscheiden, welche Prostituierte ich mit ins Hotel nehmen wollte.
    Am Ende

Weitere Kostenlose Bücher