Was es heißt, in den Krieg zu ziehen
speziellen Soldaten der NVA , an dessen verzweifelte, angsterfüllte Augen ich mich noch lebhaft erinnere. Schwarz und tief stachen sie aus einer explodierenden Landschaft voller Schlamm und sterbender Vegetation heraus. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er sich aus seinem Loch hob, um eine Handgranate nach mir zu werfen, sehe die wilde Verzweiflung des in die Enge getriebenen Tieres, die Suche nach einem Fluchtweg. Aber es gab keinen. Ich sehe die Panik, die zurückgezogenen Lippen, die seine Zähne bloß legten. Sein Freund, der über ihm lag, war tot, ein Teenager wie mein Funker.
Mein Zug hatte gerade die Bunkerlinie um eine Anhöhe durchbrochen. Der Kampf war erbittert. Vor uns lag ein etwa dreißig Meter breites Band aus miteinander verbundenen Kampflöchern und Gräben, das uns vom Gipfel der Anhöhe trennte. Plötzlich wurde von der einen oder der anderen Seite oder auch von oben auf uns gefeuert. Der Hang war so steil, dass wir immer nur Teile des Systems in den Blick bekamen, die Stellungen über uns gar nicht.
Ohio, mein Funker, und ich bewegten uns stetig voran. Dreier- oder Viererteams gingen gegen die einzelnen Positionen vor, wenn sie entdeckt wurden. Dass wir an der Reihe waren, verkündete Ohio mit einem lauten Schrei: »Chi-comm!« [6] Ich blickte den Hang hinauf und sah den dunklen Umriss der Granate vor den silbergrauen Wolken in einem Bogen direkt auf uns zufliegen.
Wir hasteten ein Stück weiter den Berg hinauf, um unter den Bogen zu kommen, in der Hoffnung, dass die Granate hinter uns aufschlug und den steilen Hang noch ein Stück weiter hinunterrollte, bevor sie explodierte. Wir gruben die Gesichter in den Schlamm, zogen die Beine an, versuchten, ganz in unseren Splitterschutzwesten zu verschwinden, und warteten auf die Detonation. Sie erfolgte weit genug unter uns, um uns nicht zu verletzen, und wir zogen unsererseits Granaten heraus, um sie den Bogen in entgegengesetzter Richtung beschreiben zu lassen. Wieder drückten wir die Köpfe in den Boden, bis die beiden Explosionen unsere Trommelfelle erzittern ließen. Wir sahen auf. Aus dem Rauch über uns kamen weitere Chi-comms durch die Luft getaumelt.
So ging es dreimal hin und her.
Es scheint unglaublich, dass mir erst nach dem dritten Mal klar wurde, dass die unsichtbaren Granatenwerfer über uns früher oder später Erfolg haben würden. Wahrscheinlich dämmerte es mir nicht zuletzt deswegen, weil ich nur noch eine Granate hatte. Gleich nach der Explosion der dritten Chi-comm rappelte ich mich auf und bewegte mich um einen kleinen Vorsprung im Hang über uns. Ohio und ich konnten uns nicht mehr sehen. Auf Ellbogen und Knien kroch ich den verschlammten Hang hinauf und wühlte mit den Beinen. Ich weiß noch, wie ich Ohios Granate über mich segeln sah, etwas rechts von mir, und hoffte, dass es ein guter Wurf war. Während die Granate noch in der Luft war, erhaschte ich einen kurzen Blick auf das Loch. Ein toter NVA -Soldat lehnte darin, sein Oberkörper hing über den Rand. Ich warf mich flach auf den Boden. Ohios Granate explodierte direkt neben dem Loch. Splitter, Steine und Dreck flogen in meine Richtung.
Ich blickte auf, während es noch auf mich niederregnete, legte den Kolben meines Gewehrs an die Schulter und wartete darauf, dass der zweite NVA -Soldat auftauchte, um seine nächste Granate zu werfen. Ich hatte den Wahlschalter an meinem M 16 von automatisch auf Einzelschuss gestellt. Fragen Sie mich nicht, warum. Irgendwie hatte mein benebelter Verstand entschieden, den Kerl mit einem sauberen Schuss zu erwischen. Ich hatte das Loch gut fünf Meter über mir voll im Blick. Ich sah den toten Soldaten. Offenbar hatte eine unserer Granaten ihre Wirkung getan. Ich empfand nichts. Ohne an etwas anderes zu denken, wartete ich, dass der unsichtbare Granatenwerfer auftauchte.
Da war er, die Granate in der Hand. Er zog den Zünder. Blut lief ihm aus einer Kopfwunde übers Gesicht. Er legte den Arm zurück, um die Granate zu werfen – und sah mich, wie ich ihn über den Lauf meines Gewehres anvisierte. Er hielt inne und sah mich direkt an. In diesem Moment brannte sich das Bild seiner Augen auf ewig in mein Gedächtnis, über die Zielvorrichtung meines Gewehres hinweg. Ich weiß noch, dass ich hoffte, er würde die Granate nicht auf mich werfen. Vielleicht warf er sie ja zur Seite und hob die Hände oder so etwas, sodass ich ihn nicht erschießen musste. Aber seine Lippen zogen sich zurück, und er schleuderte sie direkt in meine
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