Was ich dir schon immer sagen wollte
nicht überrascht. Sie wusste, wenn sie ein paar Tage länger bliebe, würde June sich Mühe geben, ihr die Stadt zu zeigen, obwohl sie sie schon gesehen hatte. Sie würde zum Sessellift gefahren, durch die Parks kutschiert und zu den Totempfählen gebracht werden.
»Du musst mal zu einem richtigen Besuch kommen«, sagte June.
»Ich habe dir nicht so geholfen, wie ich vorhatte«, sagte Eileen. Kaum war der Satz heraus, schon stülpte er sich um und grinste sie an. Dies war ein Tag, an dem sie nichts sagen konnte, ohne dass es danebenging.
»Ich packe immer mehr ein, als ich brauche.«
June setzte sich aufs Bett. »Weißt du, er ist nicht bei dem Unfall ums Leben gekommen.«
»Nicht?«
»Nicht bei dem eigentlichen Unfall. Der kann gar nicht so schlimm gewesen sein. Die anderen haben nur Schrammen abgekriegt. Wahrscheinlich war er benommen. Er war bestimmt benommen. Er ist aus dem Auto gestiegen, alle sind ausgestiegen. Das Auto stand in ganz komischem Winkel auf der Böschung. Es war quasi die Böschung raufgefahren, verstehst du, und lag auf der Seite, es muss auf der Seite gelegen haben, so« – June hielt eine Hand mit gespreizten, leicht zitternden Fingern auf die andere – »aber auch auf einer Ecke, irgendwie … gekippt. Ich begreife einfach nicht, wie es gewesen sein kann. Ich versuche es mir vorzustellen, aber es gelingt mir einfach nicht. Ich meine, ich begreife nicht, in welchem Winkel es gewesen sein muss und wie es hoch genug gewesen sein kann. Es ist auf ihn gefallen. Das Auto ist einfach … es ist auf ihn gefallen, und er war tot. Ich weiß nicht, wie er gestanden hat. Oder vielleicht hat er gar nicht gestanden. Verstehst du, er kann … rausgekrochen sein und versucht haben, sich aufzurichten. Aber ich begreife einfach nicht, wie. Kannst du es dir vorstellen?«
»Nein«, sagte Eileen.
»Ich auch nicht.«
»Wer hat dir das gesagt?«
»Einer von den Jungen, die … einer von den anderen Jungen hat es seiner Mutter erzählt, und die hat es mir erzählt.«
»Vielleicht war das grausam.«
»Nein, nein«, sagte June nachdenklich. »Nein. Finde ich nicht. Man will es doch wissen.«
Im Spiegel über der Frisierkommode konnte Eileen das Gesicht ihrer Schwester sehen, das gesenkte Profil, das wartete, vielleicht verlegen, nun, wo diese Opfergabe dargebracht worden war. Auch ihr eigenes Gesicht, das sie mit seiner wunderbar angemessenen Miene von taktvoller Besorgnis überraschte. Sie war müde und fror, eigentlich wollte sie nur noch weg. Es kostete sie Anstrengung, die Hand auszustrecken. Taten, ohne Glauben getan, können den Glauben wiederherstellen. Sie glaubte daran, mit aller Energie, die sie in dem Augenblick aufbringen konnte, musste sie daran glauben und hoffen, dass es stimmte.
Das Tal von Ottawa
Manchmal stelle ich mir meine Mutter in einem Warenhaus vor. Ich weiß nicht, warum, ich war nie mit ihr in einem; das reiche Angebot dort, die solide Geschäftigkeit hätten sie, meine ich, zufriedengestellt. Ich denke natürlich an sie, wenn ich jemanden auf der Straße sehe, der an der Parkinson’schen Krankheit leidet, und in letzter Zeit immer häufiger, wenn ich in den Spiegel schaue. Auch in der Union Station in Toronto, denn als ich zum ersten Mal dort war, da war das mit ihr und meiner kleinen Schwester. In einem Sommer während des Krieges, wir warteten auf den Anschlusszug; wir fuhren mit ihr nach Hause, mit meiner Mutter, in ihr altes Zuhause im Tal von Ottawa.
Eine Kusine, mit der sie sich zwischen den Zügen treffen wollte, erschien nicht. »Wahrscheinlich konnte sie nicht weg«, sagte meine Mutter, sie saß in einem Ledersessel im dunkel getäfelten Damenwartesaal, der jetzt mit Brettern vernagelt ist. »Sicher gab es etwas zu tun, was niemand anders erledigen konnte.« Die Kusine war Anwältin und arbeitete bei, wie meine Mutter in ihrer kategorischen Art immer erklärte, »der führenden Anwaltskanzlei der Stadt«. Einmal hatte sie uns besucht, in einem großen schwarzen Hut und einem schwarzen Kostüm, mit Lippen und Fingernägeln wie Rubine. Ihren Mann brachte sie nicht mit. Der war Alkoholiker. Meine Mutter erwähnte immer, dass ihr Mann Alkoholiker war, sofort, nachdem sie verkündet hatte, dass sie einen wichtigen Posten in der führenden Anwaltskanzlei der Stadt bekleidete. Beides schien einander auszugleichen, auf unvermeidbare und schlimme Art miteinander verbunden zu sein. In gleicher Weise sagte meine Mutter von einer Familie, die wir kannten, dass sie alles
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